/Kinderschutz : “Empathie ist wichtiger als strenge Kontrolle”

Kinderschutz : “Empathie ist wichtiger als strenge Kontrolle”

Yessica, Chantal, Lara-Mia, Yagmur, Tayler: Die Liste der Namen ist lang,
sie hat sich tief eingebrannt ins Gedächtnis der Stadt. In Hamburg kamen in den
vergangenen Jahren immer wieder Kinder gewaltsam zu Tode, weil sie
vernachlässigt oder misshandelt wurden. Sie starben quasi unter den Augen des
Staates, jegliche Hilfe von Behörden, Ämtern und Gerichten versagte. Wie konnte
es so weit kommen? Und vor allem: Wie können Kinder in Hamburg besser geschützt
werden? Die Enquete-Kommission “Kinderschutz und Kinderrechte stärken” hat sich zwei Jahre lang
mit diesen Fragen befasst und das Hamburger System der Jugendhilfe gründlich auf
Schwachstellen untersucht. Jetzt legen die Experten ihren Abschlussbericht vor.
Wir haben vorab mit Christian Schrapper, dem Vorsitzenden der Kommission, gesprochen.

ZEIT ONLINE: Herr
Schrapper, Ihr Bericht umfasst 600 Seiten, Sie sprechen 70 Empfehlungen aus –
viel Stoff für die Hamburger Politik. Wo liegen die größten Probleme in der
Jugendhilfe?

Christian Schrapper: Grob gesagt:
Es ist nicht alles schlecht, im Vergleich mit anderen Ländern ist die Lage in
Hamburg weder besonders gut noch besonders dramatisch. Die Stadt ist sehr groß, jeder Bezirk hat ein eigenes
Jugendamt, dementsprechend divers sieht es auch im Kinderschutz aus. Es gibt Abteilungen,
in denen die Arbeitsabläufe sehr gut funktionieren, gewissenhaft gearbeitet
wird, Mitarbeiter viel Rückhalt von ihren Vorgesetzten erfahren. In anderen ist
die Personaldecke aber sehr dünn, der Stresspegel hoch. Die Mitarbeiter fühlen
sich nicht wertgeschätzt und haben mitunter so viel zu tun, dass es schlicht an
Zeit fehlt. Das ist das drängendste Problem.

ZEIT ONLINE: Nach dem Tod
der dreijährigen Yagmur im Dezember 2013 wurde viel über die Hintergründe
spekuliert. Mitarbeiter des Jugendamtes hatten Hinweise auf Misshandlung
übersehen, in der Aufarbeitung war dann von Personalmangel in den Ämtern die
Rede. Wie groß ist die Belastung wirklich?

Schrapper: Offiziell
bearbeitet ein Mitarbeiter in Hamburg 20 bis 30 Hilfefälle, aber fragt man
die Fachkräfte, berichten sie von 50 bis 80 Fällen. Das ist natürlich viel zu viel, zumal, wenn darunter viele Fälle von Kindesgefährdung sind. Zudem
ist der psychische Druck sehr groß, das haben wir in einer Online-Befragung von 350 Mitarbeitern
herausgefunden. Viele fürchten sich davor, öffentlich an den Pranger gestellt
zu werden, sollten sie einen Fehler machen – nach jedem Todesfall, der durch
die Medien ging, ist diese Angst größer geworden.

ZEIT ONLINE: Wie könnten die Mitarbeiter denn noch entlastet werden? Hamburg hat in den vergangenen
Jahren 75 neue Stellen in den Jugendämtern geschaffen.

Schrapper: Das ist ein
guter erster Schritt, aber noch lange nicht genug. Es geht ja nicht nur darum, neue
Leute einzustellen, sondern sie auch sinnvoll einzusetzen. Das Verhältnis
zwischen Beratung und Verwaltung muss neu gewichtet werden. Die Fachkräfte sollten
von allen bürokratischen Aufgaben befreit werden, die auch von anderen
übernommen werden können: Leichte Schreibaufgaben, Aktenablage, all das, was
auch eine gute Geschäftsstelle auffangen könnte. Natürlich sollten die
Mitarbeiter die von ihnen betreuten Fälle sorgfältig dokumentieren. Dass die Entscheidungen des
Jugendamtes in einem Rechtsstaat klar nachvollziehbar sein müssen, haben die
Todesfälle der Vergangenheit deutlich gezeigt. Allerdings hat Hamburg vor Jahren ein
umständliches Computersystem eingeführt, das ein wahrer Zeitfresser ist…

Christian Schrapper lehrt Pädagogik an der Universität Koblenz und hat die Hamburger Enquete-Kommission “Kinderschutz und Kinderrechte stärken” geleitet.

ZEIT ONLINE: … sie meinen das
“JUS IT”-System, das die Stadt rund 150 Millionen Euro gekostet hat.

Schrapper: Richtig, wir
schlagen vor, das System zu überarbeiten oder sogar durch ein alternatives
Programm komplett zu ersetzen. Die Frage ist doch: Wozu dient das Ganze? Der
Sinn liegt nicht darin, soziale Arbeit an die Software anzupassen, es muss
umgekehrt sein. In einigen Abteilungen geht mehr Zeit dafür drauf, sich lange
durchs Programm zu klicken, dafür werden zuweilen Besuche bei Familien gestrichen. Klar, ohne Kontrolle und Dokumentation geht es nicht. Aber Kinderschutz gelingt nicht durch eine strikte Einhaltung von Regeln. Für jeden konkreten Fall müssen diese sinnvoll ausgelegt und angewendet werden.

ZEIT ONLINE: Dann mangelt
es nicht an klaren Vorschriften?

Schrapper: Nein, es gibt klare
Zuständigkeiten in Hamburg und viele durchaus gute fachliche Regeln und Arbeitsprinzipien. Die Politik allerdings vertritt die Idee, dass kein Kind
mehr zu Schaden kommen kann, wenn nur alles streng genug kontrolliert wird. Doch
das ist falsch. Es ist eine hochkomplexe Angelegenheit, Kindeswohlgefährdungen
zu erkennen. Das hat einerseits viel mit Sachkenntnis und Erfahrung zu tun, anderseits mit Empathie, verstehen zu wollen, was Eltern antreibt. Die wenigsten Eltern wollen ihren Kindern schaden. Jeder Einzelfall ist anders, lässt sich nicht nach Schema F bewerten. Daher gilt: Man muss auch Vertrauen in die Mitarbeiter setzen, ihnen für die Anwendung im konkreten Fall fachlichen Handlungsspielraum lassen. Doch um im Zweifel genau abzuwägen, braucht man Zeit. Wenn jemand über die Belastungsgrenze hinaus arbeitet, passieren Fehler. Eine Lösung kann sein, Kollegen als ergänzendes Korrektiv hinzuzuziehen.

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Schrapper: Wir schlagen
vor, Kinderschutzfälle nach dem Vier-Augen-Prinzip in Zweierteams, in
Fall-Tandems zu bearbeiten. Wenn zwei Kollegen zusammenarbeiten,
könnten sie sich gegenseitig unterstützen und beraten. Auch das Risiko, dass ein
Fall an andere Kollegen weitergegeben wird und dabei nicht alle wichtigen
Informationen übermittelt werden, so wie im Fall der kleinen Yagmur, wäre
geringer. Solche Tandems gibt es in Hamburg schon in einzelnen Abteilungen, doch sie sind die Ausnahme
und sollten zur Regel werden.

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