/“Stella”: Schuldig, jeder auf seine Art

“Stella”: Schuldig, jeder auf seine Art

Bücher, die sich ein einzelnes
Jahr aus der deutschen Geschichte vornehmen, sind seit Längerem schwer in Mode.
Florian Illies setzte den Trend mit seinem Bestseller 1913, viele folgten. Auch der Spiegel-Journalist Takis Würger scheint
nun mit seinem neuesten Roman auf diesen Zug aufspringen zu wollen. Warum soll,
was mit dem Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs so subtil
funktionierte, nicht auch Leser finden, wenn man eine Liebesgeschichte aus dem Deutschland des
Jahrs 1942 vorlegt?

Würger hörte von der Geschichte
Stella Goldschlags, einer Jüdin, die im Berlin der 1940er Jahre unter falscher
Identität lebte. Sie wurde denunziert, entdeckt
und von den Nazis zur “Greiferin” umgedreht. Die Frau avancierte zur Komplizin
der Täter, machte versteckte Juden ausfindig und lieferte sie aus, um ihre eigenen
Eltern vor der Deportation nach Auschwitz zu retten. Gerhard und Toni Goldschlag wurden schließlich trotzdem dort ermordet.

In Würgers Roman trifft nun der Ich-Erzähler Friedrich, ein
erfahrungshungriger Mittzwanziger aus der Schweiz, das fröhlich losberlinernde
Aktmodell Stella, die sich anfangs Kristin nennt. Dank seiner reichen Eltern gibt es für die beiden trotz Kriegswirtschaft noch
echten Bohnenkaffee, Pralinen mit Pervitin, Austern und Koks. Eines Tages klopft
sie an seine Hoteltür und kommt zur Sache: Sie verrät ihm, wer sie wirklich ist. Friedrich muss einsehen, dass es alles keinen Sinn hat. An einem Morgen
verlässt er Stella und steigt kurz entschlossen in den Zug, der ihn zurück in
seine wohlgeordnete Alpenheimat bringt.

Die Struktur des Buchs kommt
einem aus dem Histotainment-Genre bekannt vor. Nach einer erzählerischen
Einführung, welche die Schweizer Kindheit von Friedrich im
Zeitraffer nacherzählt, besteht Würgers Text aus zwölf Kapiteln, die
jeweils während eines Monats von Januar bis Dezember 1942 in Berlin spielen. Vor
diese einzelnen Abschnitte setzt der Autor knappe einstimmende Vignetten, die Schlaglichter
auf Ereignisse werfen, die in dem jeweiligen Monat weltweit zu verzeichnen
waren.

“Ich wollte, dass wir drei weiter tanzen”

Diese Klappentexte zählen wohldosiert
die “zehn Gebote für jeden Nationalsozialisten des Dr. Joseph Goebbels” auf und
werden mit historisch vollkommen irrelevanten Querverweisen kombiniert. Würger macht
etwa auf den lustigen Zufall aufmerksam, dass Paul McCartney im Juni geboren wurde, also im selben Monat, als der
Leiter des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich an den Folgen eines
Prager Attentats starb und deutsche Polizisten das Dorf Lidice auslöschten.

Die anschließenden Kapitel folgen
dem Creative-Writing-Konzept Show, don’t tell: Stelle knappe Dialoge in den
Vordergrund. Setze auf Handlung, Action und Schockeffekte. Erzeuge eine
wohldosierte Mischung von Erotik und Gewalt. Und Würgers Adaption einer komplexen
Geschichte jüdischen Leids im “Dritten Reich” spart nicht mit grausamen Szenen:
Als Stella aus einer Haft zurückkehrt und sich dem Ich-Erzähler, ihrem ahnungslosen
Geliebten, offenbart, berichtet sie ihm von ausgekugelten Schultern und einem Keller,
in dem sie ein Folterer mit einem Gummischlauch auspeitschte. Was
sonst noch passiert ist, muss man sich selbst ausmalen. Stellas Unterleib muss
genäht werden.

Würgers Roman fällt angesichts der
Nazigräuel immer wieder in einen verknappten Kinderbuchton. So sagt der Protagonist
etwa über die angedeutete Mé­nage-à-trois zwischen ihm, seinem wohlerzogenen Fechtpartner
Tristan von Appen und seiner Geliebten Kristin alias Stella: “Ich wollte nicht,
dass mein Freund Tristan in der SS ist. Ich wollte nicht, dass Kristin für ein
Ministerium arbeitet. Ich wollte, dass wir drei weiter tanzen.”

Es kommt schnell der Verdacht
auf, dass dem Autor überhaupt nicht bewusst war, wie heikel sein Thema angeblicher
jüdischer Schuld im Holocaust tatsächlich ist. Solchen Fragen sollte man zumindest
nicht mit stilistischen Fingerübungen beizukommen versuchen, wie man sie in der
Journalistenschule lernt.

Schlechte Zeit für Städtereisen

Nach 1945 hat sich eine Ethik der
Schoah-Repräsentation herausgebildet, die unter anderem auf der Annahme beruht, dass es einen
Unterschied mache, wer die Geschichten
von Holocaustopfern erzählt. Die literarische Aneignung und Verwertung des
Leids der Verfolgten durch nicht jüdische Autoren hält die
Auschwitz-Überlebende, Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Ruth
Klüger etwa schlicht für Kitsch. Diese Art Literatur ziele zuallererst auf einen unmittelbaren Lustgewinn, der
die Vermittlung der historischen Wahrheit verfehle: “Der Kitsch ist die Lüge,
die Kunst ist die Wahrheit.”

Das Hauptmanko des Romans ist
der Schweizer Ich-Erzähler. Deutlicher als durch diese Wahl der Nationalität seines
Helden kann ein Autor nicht kenntlich machen, dass sein sympathischer Held keiner
Fliege etwas zuleide tun kann. Dass dieser Friedrich einfach zu naiv war, um
zu ahnen, was ihn im Berlin des Jahres 1942 erwarten würde, gibt der Roman seinen Lesern am Ende zur Sicherheit noch einmal schriftlich: “Ich war ein junger Mann
mit Geld und einem Schweizer Pass, der gedacht hatte, in diesem Krieg leben zu
können, ohne etwas mit ihm zu tun zu haben. Ich war als Urlauber gekommen. Ich
war dumm gewesen.”

Gewiss: Neutrale Eidgenossen in historischen
Genozid-Situationen werden in der Literatur seit Jahrhunderten als Hauptfiguren
gewählt – von Heinrich von Kleists Gustav von der Ried, der in der Verlobung
in St. Domingo
erschüttert das Massaker der schwarzen Sklaven miterlebt, das
diese um 1800 an ihren weißen Herren verübten, über Lukas Bärfuss’
Entwicklungshelfer David Hohl in Hundert Tage, der tatenlos mit ansehen muss,
wie die Hutu in Ruanda 1994 die Tutsi abschlachten, bis nun hin zu Takis Würgers liebendem Berlin-Besucher, der sich für seine Städtereise
unglücklicherweise das Jahr 1942 ausgesucht hat.

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