Die selbst verordnete Aussprache begann zwiegespalten: “Das wird keine
Hippieveranstaltung”, sagte der parlamentarische Geschäftsführer der
Linken, Jan Korte, bevor er am Freitag den Sitzungssaal zur Parteispitzen-Klausur über die Migrationspolitik betrat. Und er fügte hinzu: Auf einer Skala von eins bis zehn rechne er dennoch höchstens
mit Eskalationsstufe drei. Korte behielt recht. Der
befürchtete Showdown im Streit zwischen der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht und ihrer Partei fiel aus. Die Debatte sei kontrovers, aber sachlich verlaufen, berichteten
Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Treffens, zu dem Fraktion und Parteiführung in
einem Bundestagsgebäude zusammenkamen. Rücktrittsforderungen in die eine oder andere Richtung blieben aus.
Im Frühsommer dieses Jahres hatten die Linken den Termin auf einem Parteitag vereinbart. Damals war der Streit um die Frage eskaliert, wie es die Partei mit der Forderung nach offenen Grenzen hält. Während große Teile der Linken – darunter die beiden Vorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger – offene Grenzen für einen unverzichtbaren Bestandteil linker Programmatik halten, lehnen das andere um Wagenknecht vehement ab. Um das Ganze nicht im Desaster enden zu lassen, wollte man sich nach einer längeren Abkühlphase erneut zusammenzusetzen und bei einer Klausurtagung noch einmal über Migration diskutieren.
Seit dem Parteitag hat sich die Lage zugespitzt. Wagenknecht rief im September ihre Sammlungsbewegung Aufstehen ins Leben. Viele in der Linken sehen darin ein Konkurrenzprojekt zur eigenen Partei. Dass Wagenknecht sich dann Anfang Oktober von der großen Berliner Unteilbar-Demonstration gegen rechts distanzierte, obwohl die eigene Fraktion diese unterstützte, sorgte erneut für Unmut. Zuletzt brachte Wagenknecht die Partei gegen sich auf, als sie den UN-Migrationspakt ablehnte.
Dass Wagenknecht nicht bereit ist, irgendwelche Denk-
oder Sprechverbote zu akzeptieren, machte sie vor Beginn der Klausur
deutlich: Sie werde ganz sicher auch in Zukunft nicht der Meinung
sein, dass jeder, der wolle, nach Deutschland kommen und hier auch noch
die volle Grundsicherung beziehen könne, diktierte sie den
Journalistinnen und Journalisten in die Blöcke. Das sei schlicht nicht
realistisch. Nach Abrüstung klang das nicht.
Gemeinsame Diskussionsgrundlage
Angesichts dieser Stimmungslage glich es fast einem kleinen Wunder, dass die Partei- und Fraktionschefs, neben Wagenknecht ist dies noch Dietmar Bartsch, es vor der Klausur immerhin geschafft hatten, sich auf ein gemeinsames Papier zu einigen. In diesem wurde vor allem das zusammengestellt, was nicht strittig ist. Die grundsätzliche Anerkennung des Asylrechts etwa, die Forderung nach einer besseren Bekämpfung von Fluchtursachen oder der gemeinsame Wille, die Rechte von Arbeitsmigrantinnen zu stärken.
Die Frage nach den offenen Grenzen wird darin nicht direkt thematisiert. Allerdings ist festgehalten, dass sowohl das Wahlprogramm von 2017 als auch der Parteitagsbeschluss vom Juni dieses Jahres weiter Gültigkeit haben. In beiden Papieren findet sich die Forderung nach offenen Grenzen, im Wahlprogramm mit dem Zusatz “für alle Menschen”. Insofern hat sich das Kipping-Riexinger-Lager durchgesetzt. Doch der Konflikt ist damit längst nicht beendet.
Streit um Arbeitsmigration
Der eher theoretische Streit über offene Grenzen, in denen auch Kipping und Riexinger ein politisches Fern- und kein Nahziel sehen, setzt sich nun bei der Frage fort, ob und wie viel Arbeitsmigration die Linke zulassen will. Auch dabei gehen die Meinungen weit auseinander. Während Teile der Partei sich für sehr großzügige Lösungen einsetzten, die sich vor allem nicht ausschließlich an der Nützlichkeit der Migrantinnen orientieren sollen, hat Wagenknecht in Interviews klargemacht, dass sie die Möglichkeiten für Menschen, zum Arbeiten nach Deutschland zu kommen, im Vergleich zum Status quo nicht ausweiten will.
Dieser Dissens wird in dem Papier nicht ausgeräumt, sondern lediglich benannt. “Das Thema Arbeitsmigration wird auch innerhalb der Partei intensiv diskutiert”, heißt es darin. Ob und wie man Arbeitsmigration regulieren und beschränken wolle, dazu gibt es keine Aussage. Als kleinsten gemeinsamen Nenner verständigten sich die Verfasserinnen darauf, dass die Linke in jedem Fall “die sozialen Grundrechte der Betroffenen schützen und ermöglichen wolle”.
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