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Algorithmen: Sie entscheiden über unsere Leben

Martin Kolmar ist Professor für Volkswirtschaftslehre in St. Gallen, Johannes Binswanger ist dort Professor für Betriebswirtschaft und Wirtschaftspolitik. Gemeinsam habe sie einige Ideen entwickelt, wie eine Diskriminierung durch Algorithmen unterbunden werden kann.

Ein Algorithmus kann heute schon dazu eingesetzt werden, um
homosexuelle Personen von heterosexuellen zu unterscheiden – allein anhand von
Fotos. In einer Studie haben Wissenschaftler der Universität Stanford
bereits im Jahr 2017 dazu Systeme mit künstlicher Intelligenz eingesetzt, die auch
standardmäßig auf Datingwebsites verwendet werden. Der Algorithmus konnte die
sexuelle Orientierung von Männern mit 81-prozentiger Wahrscheinlichkeit anhand
nur eines Fotos korrekt bestimmen. Anhand von fünf Fotos erreichte er sogar
eine Treffsicherheit von 91 Prozent. Dies ist nur ein Beispiel für die
zunehmend weitreichenden Fähigkeiten dieser neuen Technologie: Bewerbungsverfahren um
Arbeitsstellen, Konditionen von Versicherungs- oder Kreditverträgen und
allgemein Preise werden durch unsere Datenspuren auf immer persönlicheren Informationen
aufbauen und algorithmisch bestimmt werden. Algorithmen werden bestimmen, was
wir im Internet sehen und nicht sehen, wie viel wir bezahlen, und welche Möglichkeiten
wir haben und welche nicht.

Bis vor wenigen Jahren waren die Begriffe Ethik und Fairness
im Zusammenhang mit Algorithmen
weitgehend unbekannt. Dies hat sich stark verändert, und zahlreiche Kommissionen und Gutachten beschäftigen sich mit der
Frage, wie man Algorithmen ethisches Verhalten beibringen kann. Selbst in der
Programmierer-Community gab es einen fundamentalen Stimmungswandel, und
Begriffe wie algorithmische Fairness spielen dort mittlerweile eine wichtige
Rolle.

Auch auf politischer Ebene setzt sich die Erkenntnis durch,
dass Handlungsbedarf besteht. Die EU-Kommission hat von einer Expertengruppe einen
Report zu “vertrauenswürdiger Künstlicher Intelligenz” erstellen
lassen
, auch das Bundesjustizministeriums ließ ein Gutachten zu juristischen
Problemen
algorithmischer Entscheidungsverfahren anfertigen. Selbst Internetkonzerne
wie Google und Facebook bringen eigenständig die Forderung einer Regulierung
auf, und die wissenschaftlichen Publikationen dazu stoßen auf riesiges
Interesse. 

Über allem steht die Frage, wie sich der Einsatz von Algorithmen
anders organisieren lässt. Eine zentrale Aufgabe eines Algorithmus ist es zu
klassifizieren. Dies bedeutet, dass er mit Daten gefüttert wird, aufgrund derer
er entscheidet, ob ein bestimmter Sachverhalt vorliegt oder nicht. Er
entscheidet zum Beispiel aufgrund des bisherigen Kaufverhaltens eines Kunden in
einem Onlineshop, ob sich dieser für ein neues Produkt interessiert, sodass
eine entsprechende Kaufempfehlung angezeigt werden kann. Kaum ein Lebensbereich
wird in Zukunft nicht durch klassifizierende Algorithmen betroffen sein. Dabei
stellen sich zahlreiche ethische Herausforderungen, von denen hier drei beschrieben
werden sollen.

1. Gruppenspezifische
Fehler und Fairness

Was passiert, wenn der Algorithmus falsch entscheidet? Zeigt
uns das System eine unpassende Werbung, ärgern wir uns vielleicht; aber die
Situation ist vergleichsweise harmlos. Die Brisanz steigt deutlich, wenn es
etwa um die Einschätzung von Rückfallrisiken bei Straftätern geht.

Vor einigen Jahren erlangte eine Studie der investigativen
Nachrichtenorganisation ProPublica
große öffentliche Aufmerksamkeit, die sich
mit einem Algorithmus zur Abschätzung der sogenannten
Rückfallwahrscheinlichkeit beschäftigte. Der Algorithmus wird bereits im
Justizsystem der USA für Bewährungsentscheidungen eingesetzt. Die Studie wies
nach, dass die Technik schwarze Strafgefangene gegenüber weißen diskriminiert.
Weiße, die mit hohem Risiko klassifiziert waren, wurden zu 76 Prozent wieder
rückfällig; schwarze Strafgefangene mit nur 55 Prozent.

Wir wissen mittlerweile aus der Forschung, dass bei der
Gewichtung von Wahrscheinlichkeiten zwischen Gruppen unterschiedliche
Fairnesskriterien
herangezogen werden können, die alle ihre Berechtigung haben,
die aber miteinander in Konflikt stehen. Fairness aus Sicht beispielsweise
einer Jobkandidatin ist etwas anderes als Fairness aus Sicht der Arbeitgeberin
.
Da man das Problem nicht technisch lösen kann, bedarf es einer
gesellschaftlichen Debatte um legitime Fairnessnormen. 

2. Fehler oder
Privatsphäre?

Fehler und daraus folgendes diskriminierendes Verhalten
lassen sich durch eine Verbesserung der Datenqualität entschärfen. Mehr und
bessere Daten könnten die Genauigkeit verbessern. Damit geraten wir allerdings
zu einem zweiten ethischen Problem: je genauer ein Algorithmus, desto mehr
individualisierte Daten benötigt er, und umso größer ist daher auch die Gefahr
der Verletzung des Schutzes der Privatsphäre.

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