In Berlin ist an diesem Dienstagabend vom Haus der Kulturen der Welt und der Stiftung Elementarteilchen der Internationale Literaturpreis verliehen worden. Dotiert mit 20.000 Euro für die Autorin und 15.000 Euro für die Übersetzerin zeichnet er ein herausragendes Werk internationaler Gegenwartsliteratur und seine Erstübersetzung ins Deutsche aus. In diesem Jahr ging er an die mexikanische Schriftstellerin Fernanda Melchor und ihre deutsche Übersetzerin Angelica Ammar für den Roman “Saison der Wirbelstürme”. In der Jury saßen bei dieser elften Ausgabe des Preises der Dramaturg Jens Hillje, der Schriftsteller Tobias Lehmkuhl, die Journalistin Verena Lueken, der Komparatist Daniel Medin, die Lektorin Elisabeth Ruge, die Lyrikerin und Verlegerin Daniela Seel sowie der Autor und Übersetzer Robin Detje. Hier dokumentieren wir Detjes Laudatio auf Melchor und Ammar.
Ich bin überfordert. Alles andere wäre gelogen.
Ich glaube, wir waren in der Jury von der Saison der Wirbelstürme alle überfordert, haben alle gestockt und eine Weile nicht weiterlesen können. Und doch haben wir den Preis mit großer Entschlossenheit an dieses Buch und seine Übersetzung vergeben, gegen wirklich ungewöhnlich starke Konkurrenz.
Das ist vielleicht ein bisschen auch ein Bekenntnis zur Überforderung als literarisches Qualitätskriterium: Was sollen wir denn mit einer Literatur, die uns nicht überfordert? Was haben wir von der Welt in den nächsten Jahrzehnten denn anderes zu erwarten als Überforderung und wie sollte eine Literatur, die uns nicht überfordert, so einer Welt gerecht werden? Warum sollten wir einer Literatur, die uns nicht überfordert, noch vertrauen?
“Das ist der Ausgang aus diesem Loch.” So lautet der letzte Satz des Romans, dieser Chronik eines Todes, der immer wieder neu angekündigt und neu verhandelt wird. Das Loch ist die Welt, in dem die Romanfiguren leben. Sie sind, wie ein vorangestelltes Zitat des mexikanischen Schriftstellers Jorge Ibargüengoitia nahelegt, fiktiv. Aber “einige der hier erzählten Begebenheiten sind real”. Die Autorin spielt reale Begebenheiten mit ihren Romanfiguren noch einmal durch.
“Das ist der Ausgang aus diesem Loch”, diese Verheißung kommt ganz am Schluss, weil es – aus unserer Welt ebenso wie der Welt des Romans – lebendig keinen Ausgang gibt. Es ist ein Totengräber, der hier begütigend zu Leichen spricht, verstümmelten, schrecklich zugerichteten Leichen zum Teil, und es ist ein Stern am Firmament, den er ihnen als Ausweg empfiehlt. Mehr kann er nicht für sie tun, und er hat Angst, dass sie wiederkommen, wenn er ihnen keinen Ausweg zeigt.
Dann würden sich die an einem Mangel an Nahrung oder Liebe Verreckten, die Zerstückelten, die Niedergemetzelten mischen mit den Verreckenlassern, Zerstücklern und Niedermetzlern, und dann hätten sie selbst noch einmal Gelegenheit, ihre Mörder*innen verrecken zu lassen, zu zerstückeln oder niederzumetzeln.
Es gibt keine reinen Opfer in diesem Buch, nur auf zu engem Raum zusammengepferchte Menschen, die von ihren Trieben und Affekten, von ihren Ängsten und ihrem Aberglauben herumgeschleudert werden, die Gewalt erleben, sich in Gewaltphantasien flüchten oder gleich in Gewalt. Denn Gewalt schafft für einen kurzen Augenblick klare Verhältnisse, sie schafft Erleichterung und setzt einen Punkt.
Das Dorf La Matosa, in dem dieser Roman spielt, liegt in Mexiko in der Nähe von Veracruz, und dort gibt es eine Hexe, auf die die Dorfbewohner*innen ihre Ängste und Hoffnungen projizieren und die sie damit überfrachten, bis die Hexe ermordet aufgefunden wird. Der Roman spielt im 21. Jahrhundert, die Szene ist eine archaische Welt, wie sie die Entstehung der Stoa befördert haben muss, die Hoffnung an Freiheit von Leidenschaften und Gelassenheit als Grundlage der Kultur.
Alle Gefühle, alle Affekte sind gleich heftig, die Liebe ist heftig, die Angst ist heftig, die Mordlust ist heftig, und die Angst hilft der Liebe, in Mordlust umzuschlagen. Die Romanfiguren sind den eigenen Gefühlen ausgeliefert wie dem Wetter, sie arbeiten sich durch sie hindurch, sie wollen fort, ihrem Dorf entkommen, diesem Loch entkommen, sich selbst entkommen, sie humpeln ihren Trieben hinterher, wollen nicht dorthin, wo die Triebe schon sind, und müssen es doch, und sie hinterlassen dabei eine Spur der Verwüstung.
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