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Gelbwesten-Proteste: “Macron hat verstanden”

Seit anderthalb Wochen demonstrieren die sogenannten gelben Westen in Frankreich gegen die geplante Ökosteuer der Regierung von Emmanuel Macron. Die Proteste begannen in ländlichen Gegenden, inzwischen haben sie sich auf das gesamte Land ausgeweitet. Es kam mitunter zu schweren Ausschreitungen. Ist es nur Widerstand gegen die Energiepolitik der Regierung? Darüber spricht die Philosophin Corine Pelluchon im Interview.

ZEIT ONLINE: Der Protest der gelben
Westen
auf Frankreichs Straßen hat sich ausgerechnet an der Erhöhung des
Benzinpreises entzündet. Sie gelten als die französische Philosophin, die in
ihrem Werk Demokratie und Ökologie zusammendenkt. Geht es bei den gegenwärtigen
Unruhen in Frankreich überhaupt um Ökologie?

Corine Pelluchon: Diese Steuer auf
Kraftstoffe ist nur der Anlass, an dem sich ein Protest entzündet, dessen
Ursachen viel tiefer liegen. Die französische Gesellschaft ist in ihrer großen
Mehrheit davon überzeugt, dass der Klimawandel eine ökologische Transformation
des Landes erfordert. Der Unmut gilt nicht der Ökologie, sondern einer
einzelnen umweltpolitischen Maßnahme, die einseitig zu Lasten der arbeitenden
Mittelschicht und der ärmeren Bevölkerung an der Peripherie der Städte und auf dem Land geht. Diese Menschen
müssen mit dem Auto zur Arbeit fahren, weil sie anders nicht hinkommen und weil
es dort, wo sie leben, an Arbeit fehlt. Diese gefährdete Mittelschicht fühlt
sich von Paris unbeachtet und übergangen. Sie wurde sozusagen unsichtbar. Der
Protest ist für diese Menschen eine Gelegenheit zu sagen, dass sie rechnen
müssen und Unterstützung brauchen, um eine Zukunft zu haben.

ZEIT ONLINE: Dann ginge es gegenwärtig
auch um einen Protest gegen die Erfahrung von Willkür?

Pelluchon: Für die gelben Westen ist
es ein Protest gegen Ungerechtigkeit. Hinzu kommt, dass es an einer
zusammenhängenden Umweltpolitik fehlt, die den herrschenden Ökonomismus
regulieren würde. Da wird eine Kraftstoffsteuer beschlossen, während es
gleichzeitig an Maßnahmen zur Energieeffizienz im Gebäudesektor fehlt und das
Parlament mit einer Mehrheit aus Macron-Anhängern und der Rechten einen
Gesetzentwurf zur Reform der Landwirtschaftspolitik ablehnt. Die Tatsache, dass
industriell hergestelltes Fleisch billiger ist als das vom Bauernhof, obwohl
der Massenkonsum an Fleisch eine Hauptursache des Klimawandels ist, ist ein
Skandal, den das Parlament bisher nicht abschaffen will. Warum soll ein
Wochenendflug nach Barcelona nur 50 Euro kosten, der notwendige Weg zur
täglichen Arbeit im Auto aber teuer werden? Jetzt sollen ausgerechnet die
Pendler die Staatskassen füllen. Solche vereinzelten Maßnahmen wirken wie eine
beliebige blinde Flucht nach vorn und lassen keine übergreifende Ökologiepolitik
erkennen.

ZEIT ONLINE: Zeigen sich in diesen
Protesten nur Regierungsfehler oder ist es ein Fall von Demokratieversagen?

Pelluchon: Es zeigt sich vor allem,
dass demokratische Fortschritte mit den ökologischen und sozialen
Herausforderungen einher gehen sollten. Das Politische bedeutet etwas anderes
als die technokratische Steuerung durch Eliten, und in ihren Anfängen hat
Macrons Bewegung En Marche genau das ja deutlich gemacht. Politik sollte ihre
Ziele erkennbar machen und sie im demokratischen Gespräch mit einer pluralen
Gesellschaft entfalten. Würde Emmanuel Macron den umfassenden Entwurf eines
ökologischen und solidarischen Umbaus des Landes präsentieren und dessen
einzelne Elemente erklären, dann ließe sich die Gesellschaft dafür leichter
gewinnen. Doch Macron hat verstanden, dass eine Regierung den Leuten zuhören
muss und hat sich nun in seiner Rede am Dienstag den Gelbwesten mit
Wertschätzung zugewendet. Es ist allerdings nicht sicher, ob das reicht, um das
Vertrauen wiederherzustellen.

ZEIT ONLINE: Das klingt nach dem
verständlichen Protest ehrenwerter Demokraten. Doch sind das wirklich die
Gelbwesten? Die Rechtspopulisten unter ihnen sind unüberhörbar, Marine Le Pen
schürt die Wut, und die Gewalt auf den Champs-Élysées wirkt nicht gerade
gesprächsorientiert.

Pelluchon: Ich will weder die Gewalt
beschönigen noch verkenne ich die Macht des Populismus, die den Widerstand
weckt. Die Wählerschaft von Marine Le Pen bildet aber nur einen Teil des
Gelbwesten-Protests, und ich hielte es für einen folgenreichen Fehler, dessen
Vielfalt zu übersehen: Die Gelbwesten sind ebenso Arbeiter, alleinerziehende
Mütter, Rentner wie
Unternehmerinnen, Lastwagenfahrer, Landwirte, sie setzen sich zu einer
heterogenen Gruppe von Leuten zusammen, die sich entwertet und weder parlamentarisch
noch in den Medien vertreten fühlt. Sie will deshalb die Lasten und Kosten
des Autofahrens nicht allein tragen, während im übrigen Macrons liberale
Reformen die Reichen fortgesetzt reicher machen.

ZEIT ONLINE: Steuern auf Benzin treffen
aber jeden. Ist eine Ökosteuer nicht im Prinzip das richtige Signal?

Pelluchon: Tatsächlich halte ich eine
Ökosteuer nicht generell für verkehrt. Doch Verbrauchssteuern treffen nun mal
nicht alle gleichermaßen. Wer viel fahren muss und wenig verdient, ist klar im
Nachteil. Solche Steuern sind ungerecht, wenn sie nicht sozial abgefedert und
von Umverteilungsmaßnahmen begleitet werden. Dies hat Emmanuel Macron nun
verstanden.

Corine Pelluchon: Die Philosophin Corine Pelluchon, geboren 1967, unterrichtet Philosophie an der Universität Marne-La-Vallée in Paris. Ihr jüngstes Buch "Éthique de la considération" erscheint im kommenden Jahr unter dem Titel "Ethik der Wertschätzung" auf Deutsch.

Die Philosophin Corine Pelluchon, geboren 1967, unterrichtet Philosophie an der Universität Marne-La-Vallée in Paris. Ihr jüngstes Buch “Éthique de la considération” erscheint im kommenden Jahr unter dem Titel “Ethik der Wertschätzung” auf Deutsch.
© Quique GarcÌa/imago/dpa

ZEIT ONLINE: Er lernt aus dem frischen
Protest?

Pelluchon: Ja, er lernt. Aber mir scheint,
dass eine gezielte Hilfe für die Ärmsten als Maßnahme geeigneter wäre als die
Bemessung des Spritpreises nach den jeweiligen Ölpreisen, wie Macron es nun
vorgeschlagen hat. Ihm kommt außerdem das Verdienst zu, dass er eine
Energiewende in Gang setzen will, indem er etwa die erneuerbaren Energien
fördert. Die Schwierigkeiten der Atomenergie lasse ich mal beiseite. Doch der
Präsident müsste auch gegen die industrielle Intensivlandwirtschaft angehen,
er müsste die Bauern und Tierhalter finanziell dabei unterstützen, auf
Ökolandwirtschaft umzustellen. Stattdessen hat er diese Subventionen
gestrichen. Diese Aufgabe erkennt Macron noch nicht. Die Regierung lässt das
Land immer noch im Stich.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie?

Pelluchon: Frankreich versteht sich über seine ländliche Tradition und
Geschichte. Viele leben auf dem Dorf oder in kleinen Orten.
Politiker wie Mitterand und Chirac wussten das noch. Seit Sarkozy ist dieser
Zusammenhang zerrissen. Ein Beispiel für
die Kluft zwischen den Eliten und der Bevölkerung der ländlichen Regionen ist,
dass Emmanuel Macron das Jagdreiten verteidigt. Das wird ihm von der
Bevölkerung als aristokratische Engigkeit ausgelegt und als grausam verstanden.

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