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Menschenwürde: Eine Frage der Selbstachtung

“Die Würde
des Menschen ist unantastbar”, lautet der erste Satz des Grundgesetzes, dessen
70. Geburtstag jüngst gefeiert wurde. Das Grundgesetz wird zu Recht auch heute
noch als wesentliche Grundlage für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft
und für den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Erfolg der vergangenen
Jahrzehnte gefeiert. Da scheint es wenig ins Bild zu passen, dass unsere
Gesellschaft gespalten ist und nationalistische und populistische Kräfte so
viel Gehör finden. Deshalb müssen wir uns die Frage stellen: Wie ist es mit der
Würde des Einzelnen in unserer Gesellschaft heute bestellt?

Dieser erste
Satz des Grundgesetzes beschreibt treffend, worum es in unserer Gesellschaft
gehen soll: um jeden Einzelnen und nicht nur um Gleichheit, Solidarität oder
Freiheit. Es geht um all das, was zu einem würdigen Leben dazugehört. Das
Grundgesetz formuliert somit einen sehr ambitionierten Anspruch an Staat und
Gesellschaft.

Umfragen
zeigen, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland unsere Gesellschaft als
ungerecht empfindet. Die Mehrheit sagt aber auch, dass es ihnen persönlich wirtschaftlich
gut geht und sie zufrieden sind. Wieso wird unsere Gesellschaft dann als
dermaßen ungerecht empfunden? Neid ist schuld, sagen die einen, Neid auf die Gewinner
der Marktwirtschaft, die besser als andere die Chancen einer solchen Wirtschaftsordnung
zu nutzen wissen. 

Leistungsgerechtigkeit ist wichtig

Aber davon profitieren letztlich alle Menschen, da diese
Gewinner Innovationen und Beschäftigung schaffen. Ihre Profite ermöglichen es
einem starken Sozialstaat, auch diejenigen besser zu stellen, die weniger erfolgreich
sind. Kaum jemand in unserer Gesellschaft bezweifelt, dass die soziale
Marktwirtschaft dem Gesellschaftsvertrag des Sozialismus und der Planwirtschaft
überlegen ist.

Neid muss
aber nicht zwingend zu Kapitalismus und Marktwirtschaft gehören. Eine
überwältigende Mehrheit könnte die ungleiche Verteilung von Einkommen und
Vermögen dann als gerecht betrachten, wenn diese Ungleichheit das Ergebnis
freier Entscheidungen und eines fairen Wettbewerbs, also von
Leistungsgerechtigkeit, ist.

Genauso
wichtig wie die Leistungsgerechtigkeit ist für uns Deutsche jedoch die
Bedarfsgerechtigkeit
, also die Fähigkeit des Einzelnen, die individuellen
Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung, Anerkennung, Sicherheit – und was für
jeden auch dazugehören mag – zu befriedigen. Der US-amerikanische Philosoph
John Rawls nannte dies in seiner Theorie der Gerechtigkeit die Notwendigkeit
der Selbstachtung.

In anderen
Worten: Selbst eine Gesellschaft, die das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit
erfüllt, mag von einer Mehrheit als ungerecht angesehen werden, wenn diese
Gesellschaft vielen Menschen Selbstachtung verwehrt. Somit ist Neid nicht gezwungenermaßen irrational, sondern kann durchaus berechtigt sein, wenn die
Verteilung von Einkommen, Vermögen und Chancen als eine wahrgenommen wird, die
die Bedürfnisse vieler Menschen nicht erfüllt.

Womit wir
wieder beim Grundgesetz sind: Selbstachtung ist ein essenzielles Element der
Würde des Menschen. Und eine Gesellschaft, in der viele Menschen diese
Selbstachtung nicht empfinden, wird diesem Anspruch nicht ausreichend gerecht.

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