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EM-Qualifikation: Es wächst etwas zusammen

Ein untrügliches Zeichen für den Überschwang deutscher Fans ist es, wenn
sie ihren schadenfreudigen Hit singen: Ohne Holland fahr’n wir zur EM!
So geschehen kurz vor dem Ende des EM-Quali-Spiels gegen Estland. Es
war weniger eine Beschreibung der Realität, denn mit Holland ist
weiterhin zu rechnen, als ein Ausdruck guter Laune, denn ihre Deutschen
führten hoch.

Die Stimmung war launig. Jeder Angriffsversuch wurde laut bestaunt,
jedes Tor dröhnend gefeiert. Und es fielen einige, 8 an der Zahl, in
Worten: acht. Mehr Treffer schoss die deutsche Elf zuletzt im September
2006, beim 13:0 in San Marino.

Mainz erlebte ein Schützenfest, das beinahe noch höher ausgefallen wäre,
wenn der Tormann, die Latte oder ein Abwehrbein immer mitgespielt
hätten. Die Esten waren überfordert, dabei sind sie eigentlich gar nicht
so schlecht. Umso mehr sprechen das Ergebnis und die gesamte Aufführung
für die neue deutsche Mannschaft. Sie verbreitete Lust und machte
Hoffnung auf Taten.

Vor einem Jahr schied die Nationalmannschaft in der WM-Vorrunde aus, es
war ein Desaster. Danach verschleppte Joachim Löw den Neustart und stieg
auch noch in der Nations League ab. Im März reagierte der Trainer
radikal und machte Schluss mit Thomas Müller, Mats Hummels und Jérôme Boateng wie mit Sami Khedira zuvor.

Es geht wieder aufwärts

Drei Monate später und ein Jahr vor der Europameisterschaft kann man
sagen: Es geht wieder aufwärts mit der Elf. Drei Siege fuhr sie in den
drei Quali-Spielen ein. Erst schlug sie, mit ein wenig Glück, die
wieder erstarkten Holländer, dem folgte ein problemloses 2:0 in Belarus,
und jetzt das 8:0 gegen Estland. Die EM-Qualifikation wird, auch wenn
Nordirland zurzeit auf Platz eins steht, sicher nur eine Formsache.

Und die Formsache ist überzeugend, so auch diesmal. Das liegt vor allem
an den vielen guten Fußballern, die Deutschland trotz manch
anderslautender Behauptung immer wieder hervorbringt. Das Zentrum
regierte erneut İlkay Gündoğan, der unter Pep Guardiola zum Spielmacher
gereift ist. Mit seiner Ruhe am Ball vermittelte er Mitspielern und Fans
Sicherheit, mit seiner Genauigkeit war er den Stürmern ein
verlässlicher Lieferservice – schnell und frei Haus, geht bestimmt auch
online, und fast nie kommt es zu Retourensendungen.

Die ersten beiden Treffer gegen Estland leitete Gündoğan mit dem
vorletzten Pass ein. Schon beim Siegtor in Holland war das so. Gegen
Estland untermauerte er zudem seinen neuen Status in der Nationalelf,
als er den Elfmeter, den sich der Schiedsrichter besser verkniffen
hätte, cool zum 4:0 nutzte.

Zwei Tore schossen der flinke Marco Reus und der wendige Serge Gnabry,
eins der nicht zu fassende Leroy Sané, ein weiteres Timo Werner, in der
Rolle des Ersatzstürmers. Joshua Kimmich schlug wieder mal eine starke
Flanke, Leon Goretzka köpfte sie rein. Auch Julian Draxler bewies, dass
er prächtige Füße besitzt. Alle drei Tore der zweiten Halbzeit bereitete
er vor, obwohl er keine 40 Minuten auf dem Platz war.

Es mag noch nicht alles perfekt passen. Chipbälle hinter die Abwehr,
gegen Estland inflationär eingesetzt, dürften gegen starke Mannschaften
kaum geeignet sein. Kimmich nimmt eine andere Position ein als im
Verein, und das auf der Schlüsselstelle im zentralen Mittelfeld. Die
beiden Außenverteidiger mögen zwar keine Schwachstellen mehr sein wie
bei den letzten beiden Turnieren, aber es gibt bessere in der Welt. Und
was die neue Abwehr kann, weiß man mangels ernster Aufgaben noch nicht.
Immerhin unterbrachen die Trainer gegen Estland die irritierenden
Experimente mit drei Innenverteidigern und kehrten zurück zur
Pärchen-Lösung.

Angriffe bis in die Nachspielzeit

Es überwiegt jedoch der Optimismus, denn die Elf trat motivierter auf
als die alten Kader. Bis in die Nachspielzeit griff sie an. Sané wirkte
lange unbefriedigt, weil ihm zwei Tore wegen Abseits aberkannt wurden,
eins davon zu Unrecht. Bis sein Tor kurz vor Schluss endlich zählte. “Es
wächst was zusammen”, sagte der Co-Trainer Marcus Sorg, der den
verletzten Löw vertrat, nach dem Spiel.

Woher kommt die neue Lust? Vielleicht wollen die Spieler ihrem Trainer
in seiner Entscheidung, sich von den Weltmeistern zu trennen,
nachträglich recht geben. Vielleicht erklärt die Tatsache, dass der DFB
die Welt nicht mehr mit der Torhymne Schwarz und Weiß von Olli Pocher
quält, den neuen Drang nach vorne. Vielleicht ließ sich die Mannschaft
vom anwesenden Alt-Präsidenten und Neu-Groundhopper Reinhard Grindel
inspirieren. Vielleicht geht der neue Schwung schlicht auf die
Konkurrenz zurück.

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