Da sitzt er und kichert wie ein Schulmädchen. Wochenlang zeichnete sich in
seinem Gesicht keine Regung ab. Und jetzt: Kichern. Niels H. amüsiert sich offenbar.
Dabei nennen sie ihn das “Delmenhorster Monster”. Als sei er eine Kreatur aus der Finsternis.
Und was sollte so einer, der sich selbst einmal den “größten Serienmörder der deutschen
Nachkriegsgeschichte” genannt haben soll, auch anderes sein?
Niels H., ausgebildeter Krankenpfleger, Sohn eines Krankenpflegers, Enkel einer
Krankenschwester, 38 Jahre alt, ist angeklagt, im Klinikum Delmenhorst drei Menschen ermordet
zu haben. Er soll ihnen aus Heimtücke und niedrigen Beweggründen das Medikament Gilurytmal
gespritzt haben, “in dem Wissen und der Erwartung, dass die Gabe lebensbedrohliche
Herzrhythmusstörungen bis hin zu Kammerflimmern und rapidem Blutdruckabfall auslösen kann”.
Niels H. habe das getan, glaubt die Staatsanwaltschaft, um bei der – selbst ausgelösten –
lebensgefährlichen Krise der Kranken mit Reanimationskenntnissen prahlen zu können. Mit
anderen Worten: Er wollte ein Held sein. Ein gefeierter Lebensretter. Bloß starben dabei drei
Menschen.
Mindestens drei. Denn die Zahl ist wohl erst der Anfang, und Niels H. ist wesentlich mehr als
ein Dreifachmörder. Seit Prozessbeginn hat die Nebenklage so viel Druck gemacht, dass die
Polizei ihre Arbeit in dem Fall wieder aufgenommen hat. 15 Beamte der Oldenburger
Kriminalpolizei ermitteln in der Sonderkommission “Kardio” in mehr als 200 Sterbefällen, 174
davon allein in Delmenhorst. Hinzu kommen zwölf Verdachtsfälle im Klinikum Oldenburg, wo H.
zuvor angestellt war, und noch weitere bei seinen ehemaligen Arbeitsstellen in einem
Krankenhaus, einem Altenheim und beim Rettungsdienst in Wilhelmshaven. Es sind Zahlen, die
über den Verstand gehen. Und: Fast alle Fälle liegen mehr als zehn Jahre zurück. Dass dem
Pfleger jetzt erst der Prozess gemacht wird, auch das geht über den Verstand.
Der Fall Niels H. ist deshalb nicht nur die Geschichte eines Menschen, der sich zum Herrn
über Leben und Tod aufschwang. Er ist auch die Geschichte eines unfassbaren Skandals: Sie
handelt vom Totalversagen zweier Krankenhäuser und von einer unvorstellbaren Trägheit der
Strafverfolgungsbehörden.
Saal 1 des Landgerichts Oldenburg, viel Holz, viel Licht. Seit September 2014 wird Niels H.
hier jeden Donnerstag in Handschellen vorgeführt, jedes Mal hält er sich so lange einen roten
Aktenordner vors Gesicht, bis die Fotografen und Kameramänner den Saal verlassen. Dann gibt er
den Blick frei auf ein aufgeschwemmtes Gesicht mit fingerdicken Augenrändern, umgeben von
schwarzem, gelverklebtem Haar.
Niels H. ist ein stiller Angeklagter. Bis zum 8. Januar hat er das Geschehen regungslos
verfolgt, aber an diesem Tag wird alles anders. Kurz zuvor hat sich H. nämlich vom Psychiater
Konstantin Karyofilis explorieren lassen. Ihm hat er offenbart, in Delmenhorst 90 Patienten
das Medikament Gilurytmal verabreicht zu haben. Etwa 30 von ihnen seien dann – H.s
Reanimationsversuchen zum Trotz – auch gestorben. Er wisse, dass er den Menschen und ihren
Angehörigen “massiven Schaden, Leid und Kummer” zugefügt habe, das sei “nicht entschuldbar”.
Seit seinem Geständnis wirkt Niels H. lebhafter. Er beugt sich zu seiner Rechtsanwältin, sie
tuscheln kurz, und dann lachen sie. H.s Lachen sieht aus wie das eines erleichterten Mannes.
Eines Mannes, der nichts mehr zu verlieren hat.
Im Saal sitzt auch eine Frau, die nie lacht. Sie hat ihren Kopf in steinerner Ruhe auf der
Hand abgelegt und starrt Niels H. an, Stunde um Stunde. Es ist Kathrin Lohmann. Sie hat ihre
Mutter verloren. Und der Mann, der angeklagt ist, sie getötet zu haben, sitzt ihr jede Woche
schräg gegenüber. Kathrin Lohmann ist nicht nur Nebenklägerin in diesem Prozess. Sie ist der
Grund, warum es diesen Prozess überhaupt gibt.
Eisiger Wind treibt das Wasser der Hunte von Ost nach West, Kathrin
Lohmann könnte es von ihrem Wohnzimmerfenster aus gut sehen, aber sie sieht nicht hin. “Dieser
Tag”, sagt sie, “hat mein Leben für immer verändert.” Der 28. März 2003 ist der Tag, an dem
ihre Mutter Brigitte Arndt stirbt. Elf Tage zuvor sagt die Mutter einen Satz zu ihrer Tochter,
den diese nicht mehr vergessen wird: “Häsi, ich will nicht ins Krankenhaus, da muss man ja
Angst haben, dass man nicht lebend wieder rauskommt.”
Brigitte Arndt ist selbst Krankenschwester, sie weiß um den damals herrschenden
Pflegenotstand in den Kliniken, um die knappe Zeit der Schwestern und Pfleger. Sie hat ja
lange genug selbst auf diversen Stationen gearbeitet. Brigitte Arndt fürchtet sich aber nicht
davor, umgebracht zu werden. Sie hat Angst, vergessen zu werden.
Doch die Tochter, damals 25 und selbst Altenpflegerin, kann die Mutter, 60, nicht mehr zu
Hause versorgen. “Die Atemnot wurde jeden Tag stärker”, sagt Kathrin Lohmann. Sie sitzt auf
ihrem Sofa, ebenso unbewegt wie im Gerichtssaal. Monatelang hat sie die Mutter gefüttert,
gewaschen, zur Toilette gebracht, aber nach und nach übernimmt Brigitte Arndts zerstörerische
Lungenerkrankung die Herrschaft über den Alltag. Am 17. März 2003 kommt Brigitte Arndt ins
Klinikum Delmenhorst und wird noch am selben Tag ins künstliche Koma versetzt. Die Lunge soll
entlastet werden. Auf der Intensivstation arbeitet zu dieser Zeit auch der Pfleger Niels H.
Nach einer Woche geht es Frau Arndt schon besser: “Sie sollte bald auf eine Normalstation
verlegt werden.” Jeden Tag sitzt Kathrin Lohmann stundenlang an der Seite der Mutter. Jeden
Abend ruft sie vor dem Schlafengehen noch einmal im Krankenhaus an. Auch am 27. März. Da
meldet sich ein Pfleger am Telefon und sagt auf Lohmanns Frage, ob alles gut sei, nur: “Im
Moment schon.” Dann legt er auf. Heute sagt Kathrin Lohmann, seine Stimme sei stumpf und kühl
gewesen.
Vier Stunden nach dem Telefonat ruft derselbe Mann bei Kathrin Lohmann an und fordert sie
auf, sofort zu kommen, der Kreislauf ihrer Mutter sei instabil. Als die Tochter die
Intensivstation erreicht, ist die Mutter schon tot. Die Ärzte haben keine Erklärung. Lohmann
bricht unter Tränen zusammen. Das Krankenhaus verlässt sie wenig später mit dem bösen Gefühl:
Hier stimmt was nicht. Das Gefühl bleibt. Doch sie ist lange allein damit. Der Mann am
Telefon, da ist sie sich heute sicher, war Niels H.
Eine Tote im Krankenhaus erregt kein Aufsehen. Es gibt keinen Ort, an dem der Tod so
alltäglich ist, wie eine Intensivstation. Knapp 30 Prozent der Deutschen sterben heute in
stationären Pflegeeinrichtungen, mehr als 40 Prozent im Krankenhaus. An diesem Ort ist es
besonders schwierig zu erkennen, wenn ein Tod nicht natürlich ist. Wenn nicht nur gestorben,
sondern getötet wird.
Erst zwei Jahre nach dem Tod von Brigitte Arndt wird Niels H. erwischt. Es ist der 22. Juni
2005. Der ehemalige Justizvollzugsbeamte Dieter M., 63, liegt auf Zimmer 6 der Intensivstation
im künstlichen Koma. Er erholt sich von zwei mehrstündigen Operationen, bei denen Teile seiner
Luftröhre entfernt werden mussten. Die Gasaustauschfunktion der Lunge ist massiv gestört,
zeitweise muss M. künstlich beatmet werden. Eine ganze Batterie von Medikamenten wird in
seinen Körper gepumpt, um das drohende Multiorganversagen zu verhindern. Dieter M. fiebert,
aber sein Zustand ist stabil. Um 13.30 Uhr betritt Niels H. das Krankenzimmer. Er spritzt dem
Wehrlosen 40 Milliliter Gilurytmal in den zentralen Venenkatheter. Die Ärzte haben das weder
verordnet, noch wissen sie davon.
Eine halbe Stunde später kehrt Niels H. in Dieter M.s Zimmer zurück. Er dreht die
Spritzenpumpe, die M. mit dem lebensnotwendigen Medikament Arterenol versorgt, auf null
herunter. Der Blutdruck des Schwerkranken fällt sofort ab. H. hat die Alarmfunktion
abgeschaltet, damit die Kollegen nicht misstrauisch werden. Zufällig taucht aber doch eine
Schwester im Zimmer auf. H. dreht sich um und sagt: “Dein Patient hat keinen Druck mehr.” Bei
Dieter M. setzt lebensbedrohliches Herzkammerflimmern ein, doch die Schwester kann ihn mit
zwei Arterenol-Gaben retten.
Die Schwester ist misstrauisch. Sie nimmt Blut ab. Später fällt ihr auf, dass im
Medikamentenschrank fünf Ampullen Gilurytmal fehlen, obwohl es auf der ganzen Station keinen
Patienten gibt, dem es verschrieben worden ist. Ein anderer Pfleger, den die Schwester ins
Vertrauen zieht, findet in einem Mülleimer für Glas vier leere Ampullen. Dreißig Stunden
später stirbt Dieter M. Eine Woche darauf, als die Laborergebnisse den Verdacht der Schwester
bestätigen, wird Niels H. verhaftet.
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