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SPD: Wenn Parteien sterben

Michael Bröning leitet das Referat Internationale Politikanalyse der
Friedrich-Ebert-Stiftung und ist verantwortlicher Redakteur der
Zeitschrift “Internationale Politik und Gesellschaft”. In einem Gastbeitrag analysiert er, ab wann Parteien in ihrer Existenz bedroht sein können.

Parteien entstehen und verschwinden nicht über
Nacht. Dafür sind die gesellschaftlichen Triebkräfte, die sie hervorbringen, zu
beständig. Doch trotz ihrer Langlebigkeit können selbst erfolgreiche politische
Bewegungen unwiederbringlich zugrunde gehen, ihre gesellschaftliche Relevanz einbüßen,
marginalisiert und schließlich gar vergessen werden. Wer erinnert sich heute schon
noch an die amerikanische Whig Party, die 1840 mit William Harrison die
Präsidentschaftswahl gewann? Oder an die britische Liberal Party, die neben den
konservativen Tories die britische Politik des 19. Jahrhunderts bestimmte? Sie
stellte mit William Gladstone immerhin zwölf Jahre den Premierminister.

Einerseits ist das Abwenden von den Verlierern nur zu
verständlich: Der Blick richtet sich auf die Gewinner. Welche Strategie hat
funktioniert? Welcher Kandidat konnte überzeugen? Welches Thema war
erfolgreich?

Die dänischen
Sozialdemokraten etwa stehen in den für Dienstag angesetzten Wahlen vor einem
klaren Sieg
. Das Phänomen der Abwanderung traditioneller linker Wähler zu
den Rechtspopulisten konnten sie verhindern. Ihr Erfolgskonzept: Eine
Migrationspolitik, die klar auf Begrenzung und Integration baut sowie eine Sozial-
und Wirtschaftspolitik, die einen Kontrapunkt bildet zu den Verirrungen neoliberaler
Dogmen.

Beim Blick auf die Gewinner wird aber vergessen: Nicht nur jeder Sieg
hat seine Botschaft, sondern auch jede Niederlage. Gerade die um ihre Erneuerung
ringende deutsche Sozialdemokratie
wäre deshalb gut beraten, sich nicht nur mit
internationalen Erfolgsmodellen, sondern auch mit dem Scheitern von Parteien zu
befassen. Vielleicht sind gerade aus Niederlagen die Lehren zu ziehen, die eine
Wiedergeburt ermöglichen?

Der US-Politikberater Charles S. Mack ist in
einer vergleichenden Analyse der Frage nachgegangen, unter welchen Umständen
Parteien sterben. In seinem Buch When
Political Parties Die
identifiziert er fünf Hauptfaktoren: eine
überforderte Parteiführung, das Aufkommen neuer gesellschaftlicher Konfliktlinien,
wachsende Entfremdung von traditionellen Wählern, die Verfügbarkeit politischer
Alternativen und ein strenges Mehrheitswahlsystem.

Besonders die Frage der traditionellen Unterstützerbasis ist für
ihn von Bedeutung. “Es ist wichtig zwischen Niederlagen zu unterscheiden”,
schreibt Mack. Da jede Wahl Gewinner und Verlierer produziert, sind Schlappen
unvermeidbar. Im Normalfall aber “lecken sich die Besiegten die Wunden, nehmen
die Entscheidung der Wähler zur Kenntnis und planen die nächste Wahl”,
erläutert Mack. Auch wiederholte Niederlagen können verkraften werden, solange Parteien
die Kernwähler auf ihrer Seite haben. Kritisch wird es erst, wenn sich auch
diese abwenden. Dann ist das das Ergebnis “keine Niederlage, sondern
Zerstörung”, fast Mack seine Forschung zusammen.

Die Analyse klingt naheliegend. Doch für deutsche
Sozialdemokraten ist sie nicht unbedingt selbstverständlich. Zwar belegen Wähleruntersuchungen
regelmäßig die Tatsache, dass sich gerade traditionelle sozialdemokratische
Wähler ins Lager der Nichtwähler oder in Richtung Rechtspopulisten verabschiedet
haben. Doch in vielen Debatten hat sich die Auffassung durchgesetzt, diese
Entwicklung könne durchaus eine heilsame Wirkung entfalten. Wer braucht schon
noch die einfachen Arbeiter, lautet eine durchaus verbreitete Sichtweise.

So heißt es in der vom Parteivorstand der Sozialdemokraten in
Auftrag gegebenen Analyse
der Niederlage bei der Bundestagswahl
2017 fast schon lapidar:
“ArbeiterInnen spielen quantitativ im Elektorat keine bedeutende Rolle mehr”.

Die
Konsequenzen eines Abwendens von den eigenen Wurzeln und der Verlust traditioneller Wählerschichten aber können gravierend
sein. Darauf verweist nicht nur der Parteienforscher Mack, sondern das zeigt auch das
Schicksal einer Partei, die die Geschicke ihres Landes über Jahrzehnte geprägt
hat, aber heute fast in der Bedeutungslosigkeit verschwindet: das der israelischen
Arbeitspartei.

Jahrzehntelang prägte die Arbeitspartei die Entwicklung
Israels wie keine andere. Von der Staatsgründung 1948 bis ins Jahr 1977 stellte
sie jeden Premierminister – letztmalig 1999 mit Ehud Barak und mit Schimon Peres
bis 2014 auch den Staatspräsidenten. Dennoch ist von der Partei heute kaum etwas übrig: Sie ist mit gerade mal sechs Abgeordneten in der Knesset
vertreten und bemüht sich in den anstehenden Wahlen um eine Zusammenarbeit mit
kleineren Linksparteien, um ihr politisches Überleben zu sichern.

Toxische Großthemen

Was also ist schief gegangen? Wie konnte eine Staatspartei in nicht einmal einer Generation zu einer politischen Fußnote zerfallen? Ein Grund ist der Verlust der traditionellen Stammwählerschaft. Im Zuge des
demografischen Wandels verloren die europäisch geprägten traditionellen Kernwähler
der Arbeitspartei im Land an Einfluss. Israel wurde zunehmend von Einwanderern aus
der Sowjetunion und den Nachkommen orientalischer Juden aus arabischen Staaten
geprägt. Die Arbeitspartei vermochte es nicht, mit der sich wandelnden Identität des Landes Schritt zu
halten. 

Als inhaltlich toxisch erwies sich insbesondere die
Entwicklung der politischen Großthemen. In Anbetracht des Zusammenbruch des Oslo
Friedensprozesses, wiederholter militärischer Eskalationen und vor dem
Hintergrund einer verbreiteten Furcht vor einer nuklearen Bewaffnung des Iran
vermochte es die Partei nicht, auf die entscheidenden Fragen der israelischen
Öffentlichkeit überzeugende Antworten zu formulieren.

Die Zukunft Jerusalems und der Golanhöhen, die
Zweistaatenlösung, das Umgehen mit israelischen Siedlungen und mit der
wachsenden religiösen Bevölkerung im Land … auf solche harten sicherheitspolitischen
und identitätspolitischen Fragen konnte die Arbeitspartei nur ausweichend
antworten – wenn überhaupt.

Stattdessen
bemühte sie sich darum, die öffentliche Debatte
auf ökonomische Fragen zu verlagern und somit auf ein Feld, auf dem sie vermeintlich
über größere Deutungshoheit verfügte. Im Jahr 2005 übernahm Gewerkschaftschef
Amir Peretz die Parteiführung und versuchte mit einem Fokus auf Kinderarmut und
der Kritik am Neoliberalismus zu punkten. Die Folge war ein
katastrophales Wahlergebnis: 15 Prozent. Auch in den folgenden Wahlen versteifte sich die
Partei auf Sozial- und Wirtschaftsfragen und thematisierte hohe Mieten,
Ungleichheit und Korruption.

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