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Kommunalwahlen in Ostdeutschland: Das große Wählen

Die Symbolstadt

Wieder schauen alle nervös nach Görlitz. Gewinnt hier die AfD? Der Schriftsteller Lukas Rietzschel über den Ort, an dem er lebt

Es gibt diese Nächte im Winter. Wenn der Wind von Osten weht. Dann rieche
ich den Kohlerauch aus Dutzenden Schornsteinen. Dann weiß ich wieder, dass du zweigeteilt
bist. Über den Fluss mit seinen beiden Brücken, wo die alten Angler sitzen, die Stöcke zum
Draufschlagen auf starrblickende Fischaugen in Reichweite. Dort hast du dein polnisches
Gesicht. Ich sehe es viel zu selten, ich nehme es kaum mehr wahr.

Es gibt diese Vormittage. Der Himmel wie eine Fliese. Ich sitze im Schlemmerpilz, es sind seine letzten Tage. Bier-Atem und Pommesfett in der Luft. Um die Mittagszeit darf nicht geraucht werden, weil dann die Schüler kommen. Über deine schiefen Gehwege, sie sind so verzerrt und in sich verschoben wie der eine Zahn, der nicht in den Kiefer passt, sehe ich Männer laufen. Am Schlemmerpilz vorbei. Ein kurzes Nicken. Sie gehen in die Videothek, deren Tage auch gezählt sind, und holen aus schwarzen Plastiktüten die Filme, die sie ausgeliehen hatten. Ich sehe sie durch die offene Tür. Ihre Blicke nach links und rechts, nach hinten. Aber da ist niemand.

Ich kenne sie nicht. Ich kenne dich nicht.

Görlitz entzieht sich mir. Ich lebe zu kurz in der Stadt, um etwas über sie sagen zu können. Über ihre Stadtgesellschaft erst recht nicht. Aber ich sehe etwas: Ich sehe Michael Kretschmer, der nervös bei
Anne Will
sitzt, der gehetzt und unruhig wirkt. Görlitz ist seine Stadt. Er hat sie verloren, er will sie gewinnen. Ich sehe Plakate, drei Stück übereinander an nahezu jeder Straßenlaterne. Ich sehe eine Materialschlacht, die die CDU mit der AfD austrägt. Ich sehe über 500 Menschen, die in der Kulturbrauerei gut zehn Minuten stehend klatschen, als Alice Weidel die Bühne betritt. Selten habe ich eine solche Euphorie erlebt. Diesen unbedingten Willen. Ich sehe, dass Jörg Meuthen sich ankündigt. Gauland war auch schon da. Der erste Oberbürgermeister der AfD, das wäre was. Ausgerechnet in Görlitz, der selbst ernannten Europastadt. Ich sehe, dass Kramp-Karrenbauer kommt, kurz darauf Robert Habeck. Katharina Barley ist auf ihren Plakaten anwesend. Von der SPD kann man heute nicht mehr erwarten.

Görlitz, so ruhig am Rand, so weit draußen, so abgehängt, wie es manchmal heißt. Das ist auch eine Frage der Perspektive. Für andere liegt es genau in der Mitte Europas. Ich erlebe die Stadt in Hektik und Aufregung und junge Menschen – seit je eine Minderheit –, die ankündigen, gegebenenfalls wegzuziehen. Weil der Stadtrat gewählt wird, gleichzeitig der Kreistag, der Oberbürgermeister oder die Oberbürgermeisterin, das europäische Parlament. Und im September der Landtag. In vielen Umfragen führt die AfD. Auf der sogenannten Gegenseite steht bei der Bürgermeisterwahl eine Kandidatin von den Grünen, unterstützt von Wählervereinigungen und der SPD. Der viel beschworene Riss, der durch unsere Gesellschaft geht, hier im Kleinen ist er vielleicht sichtbar. Ein Generationenkonflikt ist es allemal. Wörter, die ich oft höre: Weichenstellung, Novum, das Ende, Katastrophe. Was ich mir selbst auch immer wieder sagen muss: Demokratie.

Ich bin auch nach Görlitz gezogen, weil ich noch nie eine Stadt mit so vielen ideenreichen Menschen erlebt habe. Während der Rest der Republik, womit wie immer Berlin gemeint ist, über Wohnraumprobleme und steigende Mieten diskutiert, stehen in Görlitz ganze Straßenzüge leer. Es gibt Brachflächen und Industrieruinen. Und es gibt Menschen, die wollen diesen Freiraum erhalten und nutzbar machen. Die denken an die Verflechtung von Leben, Arbeiten und Wohnen. Die träumen von einer sozialen Stadt. Die wollen mehr Austausch mit der polnischen Bevölkerung, natürlich offene Grenzen und irgendwann eine grenzüberschreitende Stadtgesellschaft. Offizielles Wahlplakat der AfD: “Mit Grenzen lebt sich’s besser”.

All die Debatten, die mich mitunter so müde machen, so unendlich müde: Digitalisierung, Diesel, Nahverkehr, Grenzkontrollen, Integration, Umweltschutz, Europäische Integration; in Görlitz, in jeder Kommune nehmen sie Gestalt an. Mehr Parkplätze oder autofreie Innenstadt? Öffentliche Rasenflächen mähen? Blumenwiesen anlegen? Kurse und Angebote für Geflüchtete ausbauen? Wer Politik machen, also aktiv gestalten und umsetzen will, der geht in die Kommunalpolitik. Das hat auch die AfD erkannt. Dementsprechend setzen sich all die deutschen Debatten dort fort.

Ich lebe zu kurz in der Stadt, um etwas über sie sagen zu können. Über ihre Stadtgesellschaft erst recht nicht. Aber ich sehe etwas: Ich sehe, dass sich noch nie so viele junge Menschen, so viele Frauen in Görlitz um ein Stadtratsmandat beworben haben. Ich höre von Parteieintritten. Druck erzeugt Gegendruck. Ob mir die Richtung gefällt oder nicht: Ich erlebe Politisierung.

Es gibt diese Tage im Sommer. Ich komme vom See zurück. Du hast dich aushöhlen und mit Wasser füllen lassen, damit ich meine Runden schwimmen kann. Rotierende Schaufeln haben sich in deine Haut gegraben. Was darunter lag, wurde verbrannt. Jetzt kreisen Segelschiffe Runden. Touristen laufen am Ufer entlang. Ich sehe sie und denke: Die dort lässt du noch weniger an dich ran. Die verstehen dich auch nicht. Deinen Wandel, deine Entwicklung. Spannende Zeit, spannende Stadt.

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