Hat sie das jetzt wirklich gehört? Mit dem Reiseführer in der Hand steht eine Frau auf einem der oberen Ränge im Teatro Greco in Taormina, einem von Römern erbauten Theater aus dem 3. Jahrhundert vor Christus, und fragt sich, was da knirscht. Von unten schallt das Geräusch zu ihr herauf, Schritte auf Kies. Tatsächlich, die Touristin hat sich nicht geirrt: Dort, wo einst der Orchestergraben war, geht ein Mann entlang, und sie hört hier oben das Knirschen der Steinchen unter seinen Schuhen.
Nach mehr als zwei Jahrtausenden kann man in Taormina sogar hören, zu welchen architektonischen Meisterleistungen die Römer fähig waren – und es auch sehen: 120 Meter lang und 20 Meter hoch ist das Theater, die halbkreisförmigen Ränge für das Publikum haben an ihrer höchsten Stelle einen Radius von 147 Metern. Auf der einstigen Bühne stehen noch einige Säulen mit aufwendig verzierten Kapitellen, jede Säule allein so hoch wie ein Haus, dahinter eine verfallende Wand aus roten Ziegeln. Das antike Theater ist der größte kulturelle Schatz in Taormina und einer der wichtigsten Siziliens.
Seinen jüngsten großen Medienauftritt hatte es 2017, als sich die Staats- und Regierungschefs der G7-Länder in Taormina berieten und für das obligatorische Gruppenfoto im Amphitheater posierten. Das Ionische Meer und die hohen Wände im Rücken – da wirkten auch die Mächtigsten der Welt eher klein. Der frühere italienische Premierminister Matteo Renzi hatte sich für Taormina entschieden anstatt für Florenz, um Sizilien mehr Aufmerksamkeit und der Gastronomie mehr Umsatz zuzuspielen. Immerhin: G7 sei Dank, hat das 11.000-Einwohner-Städtchen nun gleich zwei Hubschrauberlandeplätze und gut zwei Drittel der Straßen wurden frisch asphaltiert.
Doch auch ohne frischen Straßenbelag wusste Taormina schon jahrhundertelang Reisende anzulocken. Die Mischung aus Beschaulichkeit und Bedeutung stimmt. Die Winter sind mild und die Sommer warm, am Horizont schmurgelt der Ätna vor sich hin, breit und zerfurcht, oft trägt er einen Mantel aus Schnee. Der Vulkan und die Stadt machten schon auf Goethe einen großen Eindruck, er verfiel dem Charme Taorminas so sehr, dass er ihr mehrere Seiten in seiner 1786 angetretenen “Italienischen Reise” widmete. Kaiser Wilhelm II. erholte sich hier gern im Winter von den Strapazen des Regierens. Dem Adel folgten die Künstler. Wilhelm von Gloeden schoss hier Anfang des 20. Jahrhunderts skandalöse Fotografien nackter Knaben, die unter Mussolini als Pornografie größtenteils vernichtet wurden, aber andere Künstler anzogen. Richard Strauss war hier, Thomas Mann, Oscar Wilde. Und D. H. Lawrence blieb in den 1920ern gleich zwei Jahre.
Über diesen Glamour hat sich eine leichte Patina gelegt. In den Nebenstraßen schmiegen sich alte Häuser in engen Gassen aneinander, in denen alte Motorroller und Fiat Cinquecentos knattern. Das Leben spielt sich aber am Corso Umberto ab, der Hauptstraße Taorminas. Wie die Kirche Santa Caterina, deren Tür immer weit offen steht, stammen die meisten Häuser am Corso Umberto aus dem Barock. Die Fassaden sind verziert mit eleganten Balkonen, Säulen und Giebeln, zeigen aber Anzeichen sanfter Vernachlässigung, auf dem Anstrich liegt oft ein grauer Schleier, Stromkabel baumeln träge über dem Putz. In den Erdgeschossen dagegen wirkt es, als würden die Angestellten der Modegeschäfte einmal am Tag mit einem Mikrofasertuch über die Logos von Chanel, Hermès und anderen luxuriösen Marken gehen.
Die Piazza IX Aprile ist der Balkon der Stadt, mit Meer- wie Ätnablick. Darauf stehen einige Tische der “Wunderbar”. Das Café ist ein Relikt vergangener Zeiten, als Kaffeehäuser und Tageszeitungen die wichtigsten sozialen Medien waren. Seit 1955 gibt es das Taormina Film Festival, das schon Stars wie Marlene Dietrich, Audrey Hepburn und Robert Redford anzog, und im plüschigen Interieur der “Wunderbar” mit ihren geblümten Vorhängen und den rot gepolsterten Sesseln haben sich schon die Weltstars Greta Garbo, Elizabeth Taylor, Richard Burton und Tennessee Williams wohl gefühlt.
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