Meine Mutter hat eine Behinderung.
Sie hat eine angeborene Hüftdysplasie. Drei bis vier Prozent aller Neugeborenen haben eine
solche Fehlstellung, meistens sind Mädchen davon betroffen und meistens ist es
erblich bedingt, so wie in meiner Familie. Nicht immer führt dies zu einer
Behinderung, bei meiner Mutter allerdings hatten sich die Gelenke und Knochen
bereits im Alter von 35 Jahren so stark abgerieben, dass sie nicht mehr
arbeiten konnte und fortan als behindert galt. Da war ich sechs. Meine
Schwestern waren zwei Jahre und einige Monate alt.
Natürlich muss eine Person, die
körperlich behindert ist, nicht drei Kinder bekommen. Meine Mutter tat es aber.
Und es war ihr gutes Recht. Wenn auch offiziell erst seit der UN-Behindertenrechtskonvention 2008. Zur Zeit leben etwa 1,8 Millionen Eltern mit Behinderung oder chronischen
Krankheiten in Deutschland. Sie versuchen
die Erziehung und die Pflege ihrer Kinder sowie ihre eigenen Bedürfnisse unter
einen Hut zu bekommen, sprich: Sie versuchen ihren Alltag irgendwie zu managen.
So wie jede andere Person auch. Meine Mutter brauchte dabei allerdings Hilfe.
Und diese Hilfe übernahmen in der Regel wir: meine Geschwister, mein Vater und
ich. Obwohl wir auch noch in die Schule gingen und mein Vater als
Krankenpfleger im Schichtdienst arbeitete.
Dafür gibt es
einen Begriff: Wir waren als Familie co-handicapped. Wie bei
einem Drogenabhängigen, bei dem die nächsten Angehörigen direkt oder indirekt von der
Sucht betroffen sind, hat die Behinderung einer Person ebenfalls Auswirkungen
auf ihr näheres Umfeld. Eigentlich sind damit eher praktische Dinge gemeint.
Für uns war es zum Beispiel normal, dass wir meiner Mutter aus der Wanne helfen
mussten, ihr die Fußnägel schnitten oder nicht in jedes Gebäude einfach
reinlaufen konnten, weil sie die Treppen nicht hochkam. Ein Co-Handicap ist
auch eine psychische Belastung. Wenn ich mich an meine Mutter in meiner
Kindheit erinnere, kenne ich sie nur so: heulend und schreiend. Ich mache ihr
keinen Vorwurf. In Anbetracht der Tatsache, dass sie unter chronischen
Schmerzen und mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit mit drei kleinen Kindern
größtenteils allein zu Hause war, kann ich sie gut verstehen. Ich frage mich
hingegen, warum dieser Frau, uns als Familie, nie jemand geholfen hat. Warum es
nicht möglich
war, einer Frau mit Behinderung und drei kleinen Kindern eine Haushaltshilfe an
die Seite zu stellen.
Das alles soll
sich jetzt durch die im Herbst 2018 beschlossene
Verankerung der Elternassistenz im Bundesteilhabegesetz ändern. Dort steht
festgeschrieben, dass Eltern zur eigenständigen Bewältigung ihres Alltags ein
Recht auf Hilfe bei der Betreuung und Pflege ihrer Kinder haben. Das ist schön
– in der Theorie. In der Praxis stellt sich allerdings die Frage, wer für die
Betreuung eigentlich im Einzelfall zuständig ist und wie die einzelnen
Bedürfnisse bewertet werden. Ist für das Kochen eines ordentlichen Abendessens
für die Kinder eine Person vom Jugendamt zuständig oder eine Haushaltshilfe,
die vom Sozialamt bezahlt wird? Gerade in ländlichen Gebieten gibt es zudem
flächendeckend noch überhaupt keine Anlaufstellen für Eltern mit Behinderung
oder chronischen Krankheiten. Auch meine Eltern leben auf dem Land, und dass sie
bis heute nichts von der Elternassistenz wissen, hat vor allem auch damit zu
tun. Dieser Mangel an Information führte in meiner Familie dazu, dass wir die
Behinderung meiner Mutter und unser Co-Handicap als Familie weniger ernst
nahmen. Irgendwie hat ja auch so alles geklappt.
Dass die Hausarbeit ihr weitaus
mehr Anstrengung abverlangt haben muss als anderen Müttern und wir als Kinder
auch Aufgaben im Haushalt (oder sogar in der Pflege) übernehmen mussten, die uns
überforderten, erkenne ich erst jetzt. Durch das alles ergab sich eine ganz
eigene Familiendynamik. Meine Mutter konnte ja eh nicht die Treppe zu unseren
Kinderzimmern rauf, deswegen war bei uns immer solange alles erlaubt, bis mein
Vater nach Hause kam. Wenn er Spätschicht hatte, sah ich ihn mehrere Tage
nicht. Oft frage ich mich auch, wie es gewesen wäre, wenn mein Vater eine
Behinderung gehabt hätte. Dass eine Frau Haushalt und Kinder unter einen Hut
bringen muss, gilt bei alleinerziehenden Müttern und in vielen Paarbeziehungen
häufig als vorausgesetzt. Da kann es so tragisch ja nicht sein, wenn ein Vater
sich nicht so sehr am Haushalt und an der Kindererziehung beteiligen kann. So
oder so ähnlich oft die krude Argumentation. Mit den Neuerungen zur
Elternassistenz im Bundesteilhabegesetz ist auch die Hoffnung verbunden, dass
Männer ebenso als Elternteil wahrgenommen werden und ihnen gleichermaßen
Unterstützung in puncto Kindererziehung und Haushalt zugesprochen wird.
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