Auch in queeren Partnerschaften gibt es Gewalt. Warum redet kaum jemand darüber?
Eine Frau sitzt auf dem Bett, das Gesicht zur Wand gedreht, darüber steht:
“Er wollte. Sie nicht.” Eine andere versteckt sich hinter Gardinen, daneben die Frage: “Darf
er das?” Mit rot geweinten Augen und verschmierter Wimperntusche kauert eine weitere Frau auf
einer Treppe, daneben die Frage: “Was passiert, wenn ich ihn anzeige?” Die Fotos und Sätze hat
das bundesweite “Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen” auf Plakate gedruckt. Sie erzählen
Geschichten, in denen häusliche Gewalt etwas ist, das von Männern ausgeht und sich gegen
Frauen richtet. Sie erzählen auch, dass Gewalt in der Liebe noch immer ein Tabu in unserer
Gesellschaft ist. Dabei ist laut “Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen”, das vom Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben eingerichtet wurde, jede vierte Frau davon
betroffen. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zählte 2017 rund
139.000 Personen, die Opfer von Partnerschaftsgewalt wurden. Davon waren knapp 114.000 Opfer
Frauen. Doch nicht immer sind die Täter männlich. Und nicht immer ist Gewalt ein Problem
heterosexueller Beziehungen.
Nur weil es dazu keine Plakate gibt, heißt es nicht, dass nicht auch Frauen ihren Partnerinnen Gewalt antun und Männer ihren Partnern. Gewalt kommt auch in queeren Partnerschaften vor. Geforscht wird dazu wenig. Eine mehr als zehn Jahre alte Studie der University of Bristol belegt, dass es in queeren Partnerschaften ähnlich viele Übergriffe gibt wie in heterosexuellen. Doch warum hört man so wenig darüber? Warum scheint es unter Schwulen und Lesben ein noch größeres Tabu zu sein als ohnehin? Wir haben mit drei Menschen gesprochen, denen in ihren queeren Partnerschaften Gewalt und Machtmissbrauch widerfahren ist: Bei Lily, Jonas und Shirin wurde aus Zuneigung und Liebe, Grausamkeit und Zwang. Ihre echten Namen werden wir zu ihrem Schutz nicht nennen.
Bei Lily, 25, fing alles mit einem Chat bei Tinder an. Die Studentin war auf einer Party, als ihr Match Nadia schrieb: “Hast du noch Lust vorbeizukommen? Bisschen rumhängen, kiffen?” Lily hatte leichte Halsschmerzen, fühlte sich etwas schwach. Aber so schlimm ist es schon nicht, dachte sie. Es war noch nicht spät, die Party eh langweilig. Warum also nicht? Lily fuhr zu Nadia.
Sie hörten Musik, quatschten, tranken Bier, rauchten einen Joint. Aber Lily hat das Gras nicht vertragen. Ihr wurde schwindelig, dann bekam sie Kopfschmerzen und Schüttelfrost. Als sie vom Sofa aufstand, um auf die Toilette zu gehen, konnte sie sich kaum auf den Beinen halten. Sie sagte Nadia, dass es ihr nicht gut gehe. Lily wollte nach Hause, aber hatte die letzte Bahn schon verpasst. Also fragte sie: “Wäre es okay für dich, wenn ich bei dir übernachte?”
Als Lily neben ihr im Bett lag, kam sie sich wie benebelt vor, alles drehte sich. Sie schloss die Augen und versuchte einzuschlafen. Dann begann Nadia, sie anzufassen. Lily drehte sich von ihr weg. Dachte, dann würde sie schon aufhören. Doch Nadia hörte nicht auf.
Lily erinnert sich noch heute daran, wie merkwürdig sie sich fühlte, als sie nach dieser Nacht nach Hause fuhr. Damals schob sie das Gefühl beiseite. Erst Wochen später machte sie sich Gedanken darüber, was mit der Nacht nicht stimmte. Sie fragte sich: “Nadia muss doch klar gewesen sein, dass ich in meinem Zustand zu nichts mehr in der Lage war! Wer hat denn schon mit Halsschmerzen und Schüttelfrost Lust auf Sex?” Trotzdem suchte Lily erst mal die Schuld bei sich. Hatte sie die falschen Signale gesendet? Hätte sie klarer Nein sagen müssen?
Als ihre beste Freundin ihr dann von einem Mann erzählte, der bei einer Party übergriffig geworden war, merkte Lily, wie viel diese Geschichte mit ihrer gemeinsam hatte. Endlich konnte sie ihr komisches Gefühl deuten und aussprechen: “Was Nadia gemacht hatte, war nicht in Ordnung.”
In traditionellen Geschlechterstereotypen gilt die Frau oft als passiv, fürsorglich und gewaltlos. “Doch Frauen können sehr wohl übergriffig sein, sie können auch vergewaltigen”, sagt die Wissenschaftlerin Constance Ohms, die zu Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen promoviert hat. Sexualisierte Gewalt könne verschiedene Dimensionen haben, ein ungefragter Kuss, ein Griff in den Schritt oder wenn aus dem ersten Schmusen plötzlich ungewollter Sex werde. “Das Eindringen gegen den Willen, auch mit einem Finger oder einem Dildo, ist Vergewaltigung”, sagt Ohms. Heute kann Lily sagen, warum sie damals nicht erkannte, dass Nadia ihr Gewalt angetan hatte. Sie sagt: “Ich hätte einfach nicht gedacht, dass auch Frauen so etwas tun.” Eine Frau, die Gewalt ausübt, die Täterin und nicht Opfer ist, passt nicht in das gesellschaftliche Bild. Aber realisieren schwule Männer schneller, dass ihnen Gewalt angetan wurde, weil Männer eher dafür bekannt sind, Täter zu sein?
Als Jonas sich in Michael verliebte, schien alles perfekt: “Du bist der perfekte Partner”, sagte Michael zu ihm. Und: “Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der so toll ist.” Oder: “Ich hatte noch nie so guten Sex wie mit dir.” Jonas war von den Komplimenten geschmeichelt. Er war damals 17 Jahre alt, Michael sieben Jahre älter. “Heute weiß ich, dass Michael mich mit dieser Über-Idealisierung an sich binden wollte”, sagt Jonas. “Er hat mir auch immer wieder eingeredet, dass ich der wichtigste Mensch für ihn bin.”
Dann begann die Gewalt. Michael betrog Jonas. Dann drängte er ihn in eine offene Beziehung. Wenn Jonas mit Freunden ins Kino oder in eine Bar gehen wollte, unterstellte Michael ihm, er würde ihn betrügen. Michael lieh sich Geld von Jonas, mal zwanzig, mal fünfzig Euro, später mehr. Wenn Jonas ihn darauf ansprach, wann er es zurückbekomme, wurde Michael wütend. Er begann zu trinken. Immer öfter rastete er wegen Kleinigkeiten aus, ging auf Leute los und schlug Dinge kaputt. Er zwang Jonas, mit ihm zu schlafen. Er hielt Jonas plötzlich vor, ein schlechter Partner zu sein und seine Bedürfnisse nicht zu respektieren. Und er drohte, sich umzubringen, wenn Jonas ihn verlasse. Sechseinhalb Jahre ging es so, bis Jonas es endlich schaffte, sich zu trennen.
Hits: 47