Der Juni bringt das Ende für May. Das Bonmot, das seit Wochen in Westminster die Runde macht, ist in dieser Woche zur Gewissheit geworden. Erst beraumte Theresa May für Anfang kommenden Monats eine erneute Abstimmung über den bereits dreimal vom Unterhaus abgelehnten EU-Austrittsvertrag an. Und jetzt zwangen die eigenen Hinterbänkler der Premierministerin eine Erklärung ab, wonach sie unmittelbar nach dem Votum den Zeitplan für ihren bereits angekündigten Rücktritt bekannt geben solle. Und schließlich machte die Labour-Opposition offiziell, was seit Wochen auf der Hand lag: Der angestrebte Brexit-Kompromiss scheitert an den unverändert gänzlich unterschiedlichen Positionen beider Seiten.
Die Regierungschefin selbst gab sich unbeirrt, als sie am Freitag erstmals in den Europa-Wahlkampf eingriff. Vom bevorstehenden Rücktritt war bei dem Auftritt in Bristol nicht die Rede, nur von der Wahl, die der Europäische Rat dem austrittswilligen Land im Gegenzug für den erneuten Brexit-Aufschub bis 31. Oktober aufgezwungen hat. Die konservative Partei, sagte May, habe diese Wahl „nicht gewollt: Wir wollten die EU schon verlassen haben“. Dann verteilte die 62-Jährige Tadel an jene, die dem Austritt im Weg stehen oder ihn nicht bewerkstelligen könnten: das Parlament, Labour, die Liberaldemokraten, die schottischen Nationalisten. Und natürlich Nigel Farage, dessen neue Brexit-Partei laut Umfragen am kommenden Donnerstag einen ziemlich bemerkenswerten Wahlsieg verbuchen könnte. Der Populist arbeite aber „nicht konstruktiv im nationalen Interesse“, lautete Mays Urteil.
Woraus das viel beschworene Interesse der Nation aber besteht, darüber hat es in der knapp dreijährigen Amtszeit Mays nie einen Konsens gegeben. Deshalb sei es nun an der Zeit, ihre glücklose Vorsitzende abzulösen, finden immer mehr Mitglieder der Unterhausfraktion, von denen schon im Dezember mehr als ein Drittel der Chefin das Vertrauen entzogen. Um noch im Sommer eine erneute geheime Abstimmung herbeizuführen, müsste das sogenannte 1922-Komitee, die Vereinigung der Tory-Abgeordneten, seine Statuten ändern. So weit ließ 1922-Chef Graham Brady es bisher nicht kommen. Doch nach einem Treffen mit May am Donnerstag machte der erfahrene Parlamentarier deutlich, dass die Geduld der Fraktion erschöpft sei: Egal wie die für 6. oder 7. Juni geplante Abstimmung über den Austrittsvertrag ausgeht – May muss ihm unmittelbar danach ein konkretes Rücktrittsdatum nennen.
Neue Mehrheit?
Wahrte die Presseerklärung des konservativen Chef-Hinterbänklers wenigstens noch die Form, so ließ tags darauf eine Erklärung von Oppositionsführer Jeremy Corbyn an Brutalität nichts zu wünschen übrig. Der Labour-Chef machte die „zunehmende Schwäche und Instabilität“ der Regierung für das Scheitern der vor sechs Wochen begonnenen Kompromissgespräche verantwortlich. Immer wieder seien Vorschläge des Verhandlungsteams von Vize-Premier David Lidington durch öffentliche Äußerungen anderer Kabinettsmitglieder konterkariert worden, sagte Corbyn. Die von Labour für notwendig gehaltene Zollunion mit der EU hatten diese Woche eine Reihe früherer Tory-Minister als falsch und kontraproduktiv verdammt.
Freilich ist die Uneinigkeit aufseiten der Konservativen nur die halbe Wahrheit. Auch bei Labour stehen sich unvereinbare Positionen gegenüber. Wie der langjährige Europaskeptiker Corbyn wollen viele Partei-Linke sowie Abgeordnete aus Wahlkreisen mit großen Brexit-Mehrheiten das Referendumsergebnis in die Tat umsetzen, wenn auch auf deutlich weichere Weise als die May-Regierung – oder gar die rebellischen Tory-Hinterbänkler oder Brexit-Frontmann Farage. Hingegen setzen Labours Brexit-Sprecher Keir Starmer, die Schatten-Außenministerin Emily Thornberry und drei Viertel der Aktivisten auf eine zweite Volksabstimmung zur Verhinderung des EU-Austritts. Umfragen legen nahe, dass sich die knappe Mehrheit vom Juni 2016 mittlerweile in eine kaum weniger knappe Mehrheit für den Verbleib im Brüsseler Club gewandelt hat.
Der Schwebezustand bleibt den Briten also erhalten. Dementsprechend harsch fielen die Reaktionen auf das Scheitern der Kompromisssuche aus. Von lähmender Ungewissheit sprach die Unternehmer-Lobby CBI. Das Parlament solle seine Ferien Ende des Monats absagen und zu einer Einigung kommen: „Jetzt ist keine Zeit für Urlaub.“ Das Pfund fiel auf den Tiefststand der vergangenen vier Monate und notierte bei 1,14 Euro. Offenbar fürchten sich die Börsianer vor einer möglichen Neuwahl, die den Kapitalismuskritiker Corbyn an die Macht bringen könnte.
Zuvor muss allerdings die Regierungspartei offiziell die Schlacht um Mays Nachfolge ausrichten, die schon seit Wochen undeklariert tobt. Ex-Außenminister Boris Johnson schaffte es diese Woche in die Schlagzeilen mit der absoluten Null-Nachricht, er werde „natürlich“ seinen Hut in den Ring werfen. Amtsinhaber Jeremy Hunt hielt eine programmatische Rede zur Verteidigungspolitik, Innenminister Sajid Javid hat sich zur Ökonomie geäußert, Gesundheitsminister Matthew Hancock die Häufigkeit von Messerstechereien beklagt.
Alle wollen sie dort einziehen, wo einstweilen noch die nominelle Chefin wohnt: in die Downing Street. Im Amt hält Theresa May offenbar nur noch der Wunsch, so lange zu verharren wie möglich. Schließlich sei „jeder Tag in der Downing Street besser als einer, an dem sie nicht mehr im Amt ist“, sagt ein Insider.
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