Die junge Partei Volt will dem wachsenden Nationalismus in der EU etwas entgegensetzen und eine positive Vision für Europa entwickeln. Genau das ist das Problem.
Damian Boeselager möchte auf alles eine Antwort haben. Er sitzt im Garten des Parkclub Fürstenwalde unter einem Plastikpavillon, in der linken Hand einen Kugelschreiber, auf dem Tisch vor sich einen Stapel zusammengehefteter DINA4-Blätter. Darauf stehen 56 Fragen über Europa, formuliert von Schülerinnen aus Fürstenwalde und Mitarbeitern des Parkclubs. Heute Abend sollen sie an Vertreterinnen von elf Parteien gestellt werden. Ein Europawahl-Event. Die Grünen sind da, die Linke, die AfD, die Piraten, ein paar weitere Kleinparteien – und Damian Boeselager. Der 31-Jährige ist Mitgründer und deutscher Spitzenkandidat von Volt, einer Partei, deren Mitglieder sagen, dass sie die erste wirklich europäische sei – paneuropäisch nennen sie das. Boeselager ist heute nach Fürstenwalde gefahren, um auf dem Land Wähler von Volt zu überzeugen.
Bevor Boeselager auf die Bühne muss, beantwortet er jede einzelne der 56 Fragen in Großbuchstaben. Frage 16: Wie steht Ihre Partei zu europäischen Gewerkschaften? Wird gebraucht, schreibt Boeselager. Frage 28: Unter welchen Bedingungen sollte Deutschland die EU verlassen? Gar nicht. Nur einmal stockt der rote Stift kurz, Frage 51: Wie positioniert sich ihre Partei zur Gewinnorientiertheit im Gesundheitswesen? Boeselager schaut in die Luft, dann kramt er in seiner Ledertasche nach seinem Handy. Er scrollt durch das Grundsatzprogramm von Volt, 80 Seiten, immer parat auf dem Smartphone. Unter dem Stichwort “Gesundheitswesen” steht dort unter anderem: “In der medizinischen Versorgung soll für alle ein Optimum auf europäischer Ebene erreicht werden.”
Was ist Volt?
Es ist das erste Mal, dass Volt bei einer Europawahl antritt. Die Partei will anders sein als die anderen: Sie will über Grenzen hinweg Politik machen, nicht nur dafür begeistern, dass es die Europäische Union gibt, sondern einen Plan entwerfen, wie sie sein soll. Diesen Plan in eine klare Botschaft zu übersetzen ist schwierig, mit ihm Wahlkampf zu machen auch.
Boeselager versucht es trotzdem. Er ist einer von 146 Kandidatinnen und Kandidaten, die in diesen Wochen in ganz Europa für Volt werben. Neben Deutschland steht die Partei auch in Belgien, Bulgarien, Luxemburg, den Niederlanden, Spanien, Schweden und Großbritannien auf dem Wahlzettel. Die Forderungen sind überall die gleichen: Volt tritt in allen acht Ländern mit demselben Wahlprogramm an, der Amsterdam Declaration, formuliert von Volt-Mitgliedern in ganz Europa auf Basis des Grundsatzprogramms. Acht Länder, ein Programm – das ist, was die Gründer und Mitglieder mit paneuropäisch meinen.
Das Konzept ist neu in der europäischen Politik. Es gibt zwar schon seit den Anfängen der EU sogenannte transnationale Parteien oder Europaparteien, das sind aber weniger echte europäische Parteien als vielmehr Zusammenschlüsse nationaler Parteien; im Deutschen wird auch der Begriff Parteienfamilie verwendet. So bilden konservative europäische Parteien zusammen die Europäischen Volkspartei, sozialdemokratische die Sozialdemokratische Partei Europas. Diese Europaparteien formulieren ein gemeinsames Manifest für die Europawahl und nominieren inzwischen auch einen gemeinsamen Spitzenkandidaten. Wahlkampf machen aber vor allem die nationalen Parteien mit ihrem eigenen Programm, sie bedrucken die Plakate mit ihren Sprüchen und ihren Gesichtern.
Volt dagegen begann als europäische Bewegung, und zwar am 29. März 2017, dem Tag, an dem Großbritannien den Austritt aus der EU beantragte. Das Gründungsteam bestand aus drei Freunden: Andrea Venzon aus Italien, Colombe Cahen-Salvador aus Frankreich und Damian Boeselager aus Deutschland. Boeselager und Venzon machten gerade zusammen einen Master in öffentlicher Verwaltung an der Columbia University in New York, Cahen-Salvador arbeitete in Washington. Die drei schrieben ein Manifest, stellten eine WordPress-Seite online, bekamen Nachrichten von ersten Unterstützern. Nach und nach bildeten sich lokale Gruppen, mittlerweile ist Volt in 31 Ländern vertreten, darunter auch Nicht-EU-Länder wie Albanien, etwa 30.000 Menschen haben sich der Bewegung europaweit angeschlossen. Deutschland ist eines von 13 Ländern, in denen eine nationale Volt-Partei gegründet wurde. Viele der etwa 300 Mitglieder waren vorher noch nie politisch aktiv, 26 von ihnen stehen jetzt auf der Liste für die Europawahl.
Auf der Bühne in Fürstenwalde bekommt jeder Politiker erst 60 Sekunden Zeit, um sich und seine Partei vorzustellen. Boeselager tritt als Vierter ans Mikro. 1,98 Meter, ausgewaschene Jeans und Lederschuhe, Wollpulli statt Sakko. “Volt ist eine Partei, die entstanden ist, weil es nicht sein kann, dass die großen Probleme unserer Zeit, die wir eigentlich europäisch lösen müssen, nicht gelöst werden, weil es so starke nationale Tendenzen gibt.” Boeselager spricht ruhig, nicht euphorisch, gestikuliert mit seinen Händen und füllt die Bühne trotzdem nicht aus. Er ist der einzige Spitzenkandidat, der heute Abend nach Fürstenwalde gekommen ist, vor ihm im Publikum sitzen nur knapp 30 Menschen.
Was will Volt?
Die Feststellung, dass viele Probleme nicht national, sondern nur gemeinsam gelöst werden könnten, sei einer der Impulse für die Gründung von Volt gewesen, sagt Boeselager und nennt als Beispiele den Klimawandel und die Regelung von Migration und Asyl. Er sagt auch, die Idee für Volt sei gar nicht so sehr aus einem proeuropäischen Gedanken heraus entstanden, sondern vielmehr aus den Entwicklungen von 2016, dem Brexit-Referendum zum Beispiel. Sie hätten damals das Gefühl gehabt, dass die Politik massiv schiefläuft. “Die Parteien überall in Europa versagen, eine gute Vision zu entwickeln, wie es mit Europa weitergeht”, sagt Boeselager. “Nur die nationalistisch orientierten Parteien haben eine Vision und die ist: zurück zum Nationalstaat.”
Eine Vision für Europa, das taucht immer wieder auf, in der Amsterdam Declaration, beim Parteitag von Volt Deutschland in Berlin, im Gespräch mit Mitgliedern. Dass die EU eine solche Vision braucht, der Meinung sind viele – von den EU-Institutionen bis zu Bürgerinnen und Bürgern. Doch diese Vision überzeugend zu formulieren, das ist schwierig. Denn die EU ist kompliziert geworden, inhaltlich aber auch strukturell. Sie ist nicht mehr nur Frieden und Wohlstand, wie in den Gründungsjahren. Sie ist ganz viel und sie ist für jeden etwas anderes.
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