Kurz nachdem der Medizinprofessor Paul Offit ein Buch über Impfmythen veröffentlicht, spricht er mit der New York Times: “Ich gehe nicht in Buchläden, um Bücher zu signieren. Das kann garstig werden. Es gibt Eltern, die wirklich glauben, Impfungen verletzen ihre Kinder, und für die bin ich unglaublich böse. Sie hassen mich.” Neun Jahre später, im vergangenen Jahr, sorgt ein Film für Aufregung, in dem der Dokumentarfilmer David Sieveking meint, einen individuellen Impfplan für seine Kinder entwickeln zu müssen. Als sein Film Eingeimpft von Expertinnen und Medien mit deutlichen Worten als unwissenschaftlich und tendenziös kritisiert wird, reagiert er dünnhäutig. Er sei “sprachlos angesichts der aggressiven Art”, mit der sein Beitrag “verurteilt” werde. Noch ein Jahr später – Anfang Mai – stellt Gesundheitsminister Jens Spahn eine Impfpflicht für Masern vor. Der Hass der Impfgegner dürfte auch ihm gewiss sein.
Warum wird die Debatte um Impfungen so emotional geführt? Wieso verursacht sie so viel Aufregung und wieso scheint sie so sehr zu polarisieren? Eine Antwort ist, dass sich die Debatte vielerorts nicht nur jenseits der Fakten abspielt, sondern auch nicht mehr nur noch um Meinungen dreht. Sie arbeitet sich an der moralisch überhöhten Vorstellung perfekter körperlicher Reinheit und Natürlichkeit ab. Und immer wenn es um Moral geht, wird Streit anstrengend. Denn es geht darum, dass Menschen etwas tief in sich richtig oder falsch finden.
Hinweise dafür lieferte vor eineinhalb Jahren eine Studie, die die Einstellungen von rund 1.000 Eltern mit Kindern erfragte. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um den Medizinprofessor Saad Omer (ein Interview mit ihm zur geplanten Impfpflicht lesen Sie hier) befragten Eltern erst zu ihren Einstellungen zu Impfungen und teilten sie in drei Gruppen ein: Impfbefürworter, leicht skeptische und sehr skeptische Eltern. Dann ermittelten sie anhand eines Fragebogens die moralischen Überzeugungen. Das Ergebnis: Die skeptischen Eltern hatten andere Moralvorstellungen als die Impfbefürworter (Nature Human Behaviour: Amin et al., 2017).
Die Psychologie der Moral
Nun fragten die Forscher nicht nach Zustimmung zu klassischen Moraltheorien oder stellten Fragen, die sonst gern in ethischen Diskussionen aufgebracht werden, wie etwa: Darf man einen Mensch hinrichten lassen, wenn er vergewaltigt und gemordet hat? Lassen sich Menschenleben gegeneinander aufwiegen? Oder: Darf man einem Menschen beim Sterben helfen?
Nein, sie nutzten ein moralpsychologisches Modell. Dieser Wissenschaftsbereich geht davon aus, dass die Evolution entscheidenden Anteil an unseren moralischen Eingebungen hat. Durchgesetzt hätten sich schlicht die Einstellungen, die gut für das Überleben des Menschen gewesen wären. Ein einleuchtendes Beispiel: Zu wollen, dass Schwache beschützt werden, macht Mütter und Väter zu guten Eltern. Und je besser die Eltern, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder erwachsen werden und selbst Nachwuchs bekommen. So setzen sich die genetischen Merkmale sorgsamer Eltern auf gesellschaftlicher Ebene durch. Aber nicht nur das: Ist die Wesensart eines Menschen gut für die Gemeinschaft, kann sich diese nach und nach auch kulturell verändern. Schwache zu schützen kann zu einer sozialen Norm werden.
Jonathan Haidt, Professor an der New York University und der vielleicht bekannteste Moralpsychologe, glaubt, dass so gewisse moralische Grundlagen vererbt und weitergegeben werden. Und zwar in Form kognitiver Module. Hinter dem Begriff verbirgt sich ein evolutionärer Mechanismus, der unsere Aufmerksamkeit automatisch auf gewisse Dinge lenkt und intuitive Reaktionen auslöst. Evolutionär ergibt es so beispielsweise Sinn, dass wir nicht lange über die Gefahr nachdenken, die von einer Schlange ausgeht, sondern dass wir sofort Ekel und Furcht verspüren – und fliehen wollen.
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