Vor knapp vier Wochen hat Chalifa Haftar seine Offensive auf die libysche Hauptstadt gestartet. Bisher kontrollierte der ehemalige General den Osten von Libyen, nun will er mit seiner sogenannten Libyschen Nationalen Armee (LNA) die international anerkannte Regierung unter Ministerpräsident Fajis al-Sarradsch in Tripolis stürzen. Bei den Kämpfen zwischen der LNA und den Milizen in Tripolis wurden bisher mehr als 300 Menschen getötet und mehr als 1.600 verletzt. Craig Kenzie ist bei Ärzte ohne Grenzen Projektleiter der Hilfsprojekte in Tripolis. Von Tunis aus koordiniert er die medizinische Hilfe in den Internierungslagern rund um Tripolis sowie die Hilfe für vertriebene Libyer.
ZEIT ONLINE: Herr Kenzie, einige Ihrer Kollegen sind gerade in Libyen. Wie ist die Lage?
Craig Kenzie: Die Situation in Tripolis ist sehr angespannt. Es gibt massive willkürliche Bombardierungen und heftige Kämpfe auch in sehr dicht besiedelten Gegenden in der Stadt. Wohngebiete werden mit Raketen und Mörsergranaten beschossen. Wir beobachten, dass die Luftangriffe immer näher an das Stadtzentrum herankommen.
ZEIT ONLINE: Wie geht es den Zivilisten in Tripolis?
Kenzie: Tripolis ist eine recht große Stadt mit rund 1,6 Millionen Einwohnern. Die Front verläuft zwölf Kilometer südlich des Stadtzentrums. Dort, wo die Kämpfe anhalten, sind noch Zivilisten. Wie viele es genau sind, lässt sich schwer sagen, weil es aus den Kampfgebieten kaum unabhängige Berichte gibt. Viele Einwohner haben Angst, dass ihre Häuser zu Militärstützpunkten umfunktioniert werden. Um das zu verhindern und um ihre wenigen Besitztümer zu schützen, bleiben sie in ihren Häusern. Dort sind sie aber nicht sicher, denn das Kampfgebiet ist nicht statisch, sondern verändert sich die ganze Zeit.
ZEIT ONLINE: Mehr als 40.000 Menschen sind vor den Kämpfen auf der Flucht. Wo sind sie untergekommen?
Kenzie: Die Kämpfe konzentrieren sich vor allem im Süden von Tripolis. Viele Zivilisten fliehen deshalb in den Norden der Stadt, in die Gegend rund um den Hafen. Einige können bei Bekannten oder Freunden unterkommen, andere suchen Schutz in den Lagern oder Schutzhäusern für Vertriebene, wo sie zumindest eine Grundversorgung bekommen. Andere versuchen, Tripolis zu verlassen und in Orte zu gelangen, wo die Lage stabiler ist. Besonders beunruhigend ist die Lage der Flüchtlinge und Migranten, die zwischen die Fronten geraten sind. Wir befürchten, dass sie sich eher versteckt halten und von der Notversorgung nicht viel abbekommen, weil sie entweder bei der Verteilung diskriminiert werden oder fürchten, verhaftet und in eines der Internierungslager gebracht zu werden.
ZEIT ONLINE: In Libyen sind etwa 6.000 Flüchtlinge und Migranten in Gefangenenlagern eingesperrt, mehr als die Hälfte davon in Lagern rund um Tripolis. Die Zustände dort sollen menschenunwürdig sein.
Kenzie: Ja, schon vor dem Ausbruch der Kämpfe waren diese Internierungslager weit entfernt von internationalen Standards. Es gab nicht genug Wasser und Essen und kaum Zugang zu sanitären Anlagen. Viele der Menschen, die jetzt in diesen Lagern sind, sind nach Libyen gekommen, um den Kämpfen oder der politischen Verfolgung in ihren zumeist afrikanischen Heimatländern zu entkommen. Sie hatten gehofft, endlich in Sicherheit zu sein. In Libyen haben sie aber Schreckliches erlebt, sie wurden gefoltert, misshandelt und ausgeraubt, weshalb sie über das Mittelmeer weiter nach Europa fliehen wollten. Dort wurden sie dann von der libyschen Küstenwache aufgehalten, verhaftet und zurück an Land in diese Lager gebracht. Nun sind sie eingesperrt, ohne zu wissen, wie es mit ihnen weitergeht. Mit jedem Tag verschlechtert sich ihre Lage.
ZEIT ONLINE: Haben Sie noch Zugang zu den Internierungslagern?
Kenzie: Wir haben normalerweise Zugang zu fünf von sieben Lagern in Tripolis. Seit Kurzem kommen wir nicht mehr in das Lager Kasr Bin Gaschir, das nun offenbar leer ist, aber die vier anderen im Zentrum von Tripolis können wir im Moment noch betreten. Einige der Inhaftierten konnten wir schon in Orte an der Küste bringen. Auch versuchen wir, die Verletzten aus den Lagern zu holen, um sie behandeln zu lassen. Da die Front immer näher kommt, befürchten wir aber, dass wir bald keinen Zugang mehr zu den Lagern haben werden.
ZEIT ONLINE: Die Internierungslager stehen unter der Kontrolle der Einheitsregierung in Tripolis, die von der internationalen Gemeinschaft unterstützt wird. Was berichten Ihre Kollegen aus den Lagern?
Kenzie: Sie sagen, dass viele der Gefangenen kaum noch Essen bekommen, manche Menschen müssen tagelang hungern. Die Menschen haben große Angst. Sie sind oft nur wenige hundert Meter von den Kämpfen entfernt. Nachts hören sie die Bombardierungen und Raketeneinschläge, die immer näher kommen. Sie sind abgeschnitten von der Außenwelt, eingeschlossen in ihren Zellen und wissen nicht, was um sie herum passiert. Jeden Tag und jede Nacht wird geschossen und gibt es Luftangriffe. Diese Menschen sind ohnehin schon erschöpft, jetzt, in diesen Tagen, sind sie absolut verzweifelt.
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