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Ukraine: Wo die Hoffnung begraben ist

Auf die Frage, wo die Ukraine heute steht, gibt es viele
Antworten: hoffnungsvolle, frustrierte, zufriedene, wütende. Kateryna Handsjuk, die alle Katja nennen, hat
die fünf Wochen vor ihrem Tod aufgenommen. Sie liegt in ihrem Krankenhausbett und kann den
Kopf kaum drehen, aber ihre Augen schauen direkt in die Kamera. Durch ihre
linke Gesichtshälfte hat sich Säure gefressen, durch die Arme, den Oberkörper,
den Hals, ihre Attentäter hatten ganze Arbeit geleistet, als sie ihr auflauerten und sie mit einem Liter Säure übergossen. “Ich weiß,
dass ich derzeit fürchterlich aussehe, aber immerhin kümmert man sich um mich”,
sagt Handsjuk in dem Video auf Ukrainisch. “Und ich sehe definitiv besser aus als die
Gerechtigkeit und das Rechtssystem in der Ukraine, weil sich derzeit niemand
darum kümmert.”

Am 4.
November 2018 starb Katja Handsjuk nach etlichen Operationen mit 33 Jahren. Sie war
Aktivistin und Politikerin im südukrainischen Cherson, einer Großstadt nahe dem
Schwarzen Meer. Handsjuk hatte sich mit lokalen Machteliten angelegt. Der Anschlag
auf sie sollte eine Warnung sein: Aktivisten in der Ukraine sollen sich nicht
sicher fühlen. Als sie schon schwerverletzt im Krankenhaus lag, sagen ihre
Freunde, habe Handsjuk sie gewarnt: “Ihr werdet die Nächsten sein.”

Vor fünf
Jahren protestierten Hunderttausende auf dem Maidan in der ukrainischen
Hauptstadt Kiew, bis der korrupte Präsident Viktor Janukowitsch nach Russland
floh. Dann annektierte Russland die Krim und entfachte einen Krieg im Osten des
Landes. Während all dieser Verwerfungen wählten die Ukrainer einen neuen
Präsidenten und ein neues Parlament. Eine neue Zeit sollte anbrechen, so
hofften jene, die sich als Aktivisten bezeichnen. Doch seither haben sich Wut, Frust und Ungeduld über Korruption, Stillstand und verschleppte Reformen angestaut: Auch deshalb konnte jüngst im ersten Wahlgang für das Präsidentenamt ein Komiker eine überragende Mehrheit der Stimmen gewinnen, der zwar in einer TV-Serie einen Präsidenten spielt, aber
noch nie etwas mit Politik zu tun hatte.

“Wir hoffen auf die Strafe Gottes”

Es ist nicht
so, als wäre in diesen fünf Jahren in der Ukraine nichts geschehen. Dass der Ausgang einer Wahl tatsächlich offen ist, wäre im Nachbarland Russland unvorstellbar. Es gibt jetzt ein Antikorruptionsbüro, das sogar ermittelt, bald soll ein
Anti-Korruptions-Gericht seine Arbeit aufnehmen. In der Verwaltung gibt es bei
Ausschreibungen mehr Transparenz dank des Programms ProZorro. Der Gas- und Bankenmarkt wurde aufgeräumt, die Dezentralisierungsreform gilt als Erfolg: Kommunen bekommen mehr Macht und
Geld. Aber diese Reformen gelangen nicht dank der politischen Elite, sondern
trotz ihnen. Weil kurzzeitig Reformer in der Regierung ihre Vorhaben mit
aller Macht durchdrückten, bevor sie zurücktraten, oder weil Aktivisten Druck machten. Bis sie selbst
unter Druck gerieten.

Daria Alexandrowa

Daria Alexandrowa
© Sebastian Bolesch für DIE ZEIT

Die Gemeinde
Kozjubynske ist ein Vorort von Kiew, etwa 15.000 Einwohner, die Mieten sind
hier niedriger als in der Hauptstadt, die Luft ist besser. Und ganz in der Nähe
liegt ein schöner Wald: Etwa 6.000 Hektar groß, sanfte Dünen, kilometerlange
Wanderwege, klare Seen. Am Rande des Waldes, im sechsten Stock eines Hochhauses, wohnt die 32-jährige
Daria Alexandrowa. Der Winter hat gerade begonnen, als wir mit ihr zum Parkplatz gehen, sie stockt kurz, dann zeigt sie den Albtraum,
der ihr widerfahren ist. Der Mercedes ihres
Mannes ist eine ausgebrannte Karosserie in weißem Schnee, in der die Airbags
schlaff vom Lenkrad hängen. Ihr eigener schwarzer Mitsubishi steht eine Reihe
weiter: eine verkohlte Metallleiche. “Wir hoffen auf die Strafe Gottes”, sagt
Alexandrowa. Es ist wohl ihr Glaube, der sie durch Tage mit Angstattacken trägt, die
sie seit dem Anschlag heimsuchen.

Weil sie sich mit örtlichen Politikern anlegte?

Sie waren in der Nacht gekommen an jenem 15. Oktober. Sie sei aufgewacht, als erst ihr Autoschlüssel piepte, dann der ihres Mannes, erzählt Daria Alexandrowa. Sie habe den Knall gehört, als die Autoreifen platzten. Nun hat der Krieg auch sie erreicht, habe sie gedacht, als sie mit dem Kind auf dem Arm zum Fenster rannte und die Flammen lodern sah. Sieben Autos
brannten in jener Nacht aus, so groß wurde das Feuer. Dass dieser Anschlag
anscheinend ihr galt, hat sie erst später verstanden.

Aber warum?
Und warum zu diesem Zeitpunkt? Weil Alexandrowa neuerdings in der Stadtverwaltung arbeitete
und sich vor einigen Monaten mit örtlichen Politikern wegen eines Heizwerks
angelegt hatte? Oder weil sie für den Erhalt des Belitschansky-Waldes kämpfte, der
an ihr Haus grenzt? Investoren hätten dort ambitionierte Baupläne. Mit einigen anderen Frauen versuchte Alexandrowa seit Jahren, den Wald zu retten und aufzudecken, wie das Land illegal verscherbelt wird. 

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