In der Theorie klang es gut. Nach neuen Ideen, nach Relevanz, nach viel
Geld. Die Theorie, das war der Koalitionsvertrag. “Bildung, Wissenschaft und Forschung sind
die Schlüsselthemen für Deutschlands Zukunft”, man wolle “zusätzliche Mittel mobilisieren”,
heißt es darin. Die Vereinbarung von Union und SPD ist ein wahrer Exzess von Versprechungen an
Schulen, Universitäten, Forschungseinrichtungen.
Aber er ist eben nur Theorie.
Die Praxis, das ist Anja Karliczek. Seit einem Jahr Ministerin im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Eine vorher unbekannte CDU-Finanzpolitikerin, die auch heute noch den meisten Bürgern unbekannt ist – und doch ist sie umstritten. Spricht man mit Wissenschaftsfunktionären, Forschungspolitikern, selbst eigenen Parteifreunden, heißt es: Karliczek sei konfliktscheu, unsouverän und ideenlos, ihr fehlten das politische Gespür und die große Vision. Die Kritik ist so scharf, dass sie häufig nur vertraulich geäußert wird. Aber es gibt auch die anderen. Parteikollegen und Vertreter der Wissenschaft, die sie in Schutz nehmen, die sagen: Nicht Anja Karliczek sei das Problem, sondern der langsamer wachsende Haushalt der Bundesregierung.
Ministerien werden nie ausschließlich nach Praxiserfahrung verteilt. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hat nie selbst gedient, Gesundheitsminister Jens Spahn nie am OP-Tisch gestanden. Dass die gelernte Hotelfachfrau Karliczek den Posten bekam, war also eher die Regel als die Ausnahme, wenn auch ungewöhnlich für das BMBF: Karliczeks Vorgängerinnen Johanna Wanka, Annette Schavan und Edelgard Bulmahn waren ausgewiesene Expertinnen. Doch wer wo regiert, ist das Ergebnis politischer Verhandlungen. Da geht es um Loyalitäten und um Proporz, Alter, Bundesland, Geschlecht. Auch eine Melange aus diesen Faktoren hat Karliczek – 47 Jahre alt, seit 2013 im Bundestag – aus dem größten Landesverband Nordrhein-Westfalen ins Ministerium geholfen. So weit, so normal. Und sogar die bösen Spitzen aus anderen Parteien gehören zum Tagesgeschäft. “Es war ein verlorenes Jahr für die Bildungspolitik in Deutschland”, sagt die grüne Bildungspolitikerin Margit Stumpp. Doch offene Kritik kommt auch aus der Regierungskoalition: “Frau Karliczek, zögern Sie bitte nicht, uns Ihre Gesetzentwürfe zuzuleiten, also in die Hufe bitte”, rief SPD-Chefin Andrea Nahles vor einigen Monaten im Bundestag. “Die Einarbeitungsphase ist nach über einem Jahr vorbei”, sagt ein SPD-Bildungspolitiker, der regelmäßig mit Karliczek zusammentrifft. Die Ministerin selbst versucht derweil, ihre Unerfahrenheit positiv zu deuten: Sie müsse lernen, lernen, lernen, wird sie in Interviews zitiert.
In diese Lernphase fallen allerdings Verhandlungen, die für die deutsche Wissenschaft wichtig sind. Seit Monaten besprechen sich Bund und Länder, in drei Wochen tagt die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz des Bundes und der Länder (GWK). Bis dahin muss entschieden sein, wie eine Summe von bis zu 100 Milliarden Euro zu verteilen ist – wer kriegt wie viel von wem und nach welchem Schlüssel? Mehrere solcher “Pakte” gibt es. Trockene Ministerialbürokratie, Finanzarithmetik für Föderalismuskenner. Die Verhandlungen aber haben einen hohen Symbolwert: Die Universitäten wollen gehört werden, die Länder wollen Geld. Und der Bund will, dass Karliczek sich von diesen Begehrlichkeiten nicht beeindrucken lässt. Wird es ihr gelingen, doch noch zu der Ministerin zu werden, die sich alle wünschen?
Anja Karliczek hatte ihre Amtszeit mit einem Versprechen begonnen, das eine Verheißung hätte sein können: Ich höre zu, ich frage nach. Gebt mir Zeit, mich einzufinden, das war ihre Bitte. Ihre Forderung an die Wissenschaft lautete: Kommt mal raus aus eurer Komfortzone, zu den Menschen hier draußen.
Wer Anja Karliczek in diesen Monaten des Kennenlernens traf, schwärmte von ihrer gewinnenden Art, ihrer Neugierde. “Sie tritt moderierend auf, lädt Fachpolitiker zu sich ins Büro und hört zu”, sagt die CDU-Bildungspolitikerin Sybille Benning. Der Leiter einer großen Wissenschaftseinrichtung sagt: Verspreche sie anzurufen, rufe sie an. Verspreche sie, sich zu kümmern, kümmere sie sich. Und er fügt hinzu, dass er die abfällige Arroganz vieler Kollegen gegenüber der Ministerin “inakzeptabel” finde. Denn das Lästern – über ihre anspruchslosen Reden, ihre mangelnde Kenntnis des deutschen Wissenschaftssystems, auch über ihren unakademischen Habitus – war wie ein Beweis dessen, was Anja Karliczek treffsicher erkannt hatte: dass Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Wissenschaftsinstitutionen in Deutschland in Wahrheit gern unter sich bleiben.
Ihr Ministerium, ein Steinklotz mit Glasfenstern an der Spree, schillernd nur wenn die Sonne darauf fällt, hat dieser Tage noch ein weiteres Problem: Der Haushaltsentwurf, den der Finanzminister Olaf Scholz (SPD) gerade vorgestellt hat, sieht für das BMBF keine Budgeterweiterung vor, sondern eine Kürzung von 533 Millionen Euro. Eine Zahl, die verschmerzbar ist für ein Ministerium, das bislang mit 18 Milliarden Euro über den vierthöchsten Etat verfügt. Ein Etat, der seit 2013 stetig gewachsen ist. Jetzt aber steigen die Ausgaben für Verteidigung, Inneres und Wirtschaft – und sinken für Bildung und Forschung.
Diese Etatkürzung deuten viele als Symbol: dafür, dass in der Wissenschaft die fetten Jahre vorbei sein könnten, dass der Begründungsdruck für jede Forschungsmillion erstmals seit vielen Jahren zunimmt. Oder auch dafür, dass die Macht der Kanzlerin schwindet – einer Physikerin, die mit Karliczeks Vorgängerinnen Annette Schavan und Johanna Wanka eng vertraut war und immer ihre schützende Hand über das Bildungsministerium hielt. Viele haben aber auch den Eindruck, dass auf Anja Karliczek kein Verlass ist. Kämpft sie wirklich um das Geld?, fragen all jene, die davon abhängig sind. Weniger Geld bedeutet weniger Macht und weniger Sichtbarkeit – vor allem für die deutsche Wissenschaft, die im globalen Wettbewerb steht. Ein Relevanzverlust, von dem viele fürchten, dass Anja Karliczek ihn nicht einmal bemerkt.
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