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Großbritannien: Den Brexit gibts zu Weihnachten

Der Telegraph wusste es schon Stunden vor dem Treffen. “Emmanuel Macron wird Theresa May heute Nachmittag mit martialischem Gesichtsausdruck auf den Stufen des Élysée-Palasts erwarten”, teilte das britische Sprachrohr der Brexit-Befürworter seinen Lesern mit. Schließlich biete sich nicht jeden Tag die Gelegenheit, in die Rolle eines Charles de Gaulle zu schlüpfen. Der damalige französische Präsident hatte 1963 mit seinem Veto die Aufnahme Großbritanniens in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft verhindert. In Anspielung an die britische Ladenkette, die sämtliche Waren für ein Pfund Sterling verkauft, nannte der Telegraph Macron einen “Poundland de Gaulle” – eine Billigausgabe des einstigen Staatschefs, der nur eines verstehe: “dass es in Frankreich immer gut ankommt, den ,Rosbifs’ den ausgestreckten Mittelfinger zu zeigen”.

Falsch getippt. Tatsächlich empfing Macron die britische Premierministerin am frühen Dienstagabend in Paris mit einem strahlenden Lächeln, nahm sie an den Schultern und drückte ihr zur Begrüßung zwei herzliche Küsse links und rechts auf die Wangen. Martialisch war höchstens der Anblick der Republikanischen Garde am Eingang des Präsidentenpalastes. Die gehörte allerdings – wie immer bei hohem Besuch – zum Protokoll.

Aber es stimmt schon: Seit die Briten im Juni 2016 für den Austritt aus der EU gestimmt haben, zeigt Frankreich besondere Strenge gegen die Abtrünnigen. Man sei vorbereitet auf einen No Deal, wiederholte das politische Paris in den vergangenen Wochen mit stoisch vorgetragener Ruhe. Für May war deshalb klar: Wenn sie an diesem Mittwoch auf dem EU-Sondergipfel in Brüssel eine Chance erhalten will, einen Brexit ohne Abkommen zu verhindern, dann dürfte die Sorge einer deutschen Bundeskanzlerin um die deutsche Exportwirtschaft nicht reichen. 

Die Brexit-Verlängerung könnte an Frankreich hängen

Angela Merkels Willen zum Einlenken hatte sich May am Dienstagnachmittag bei einem Zwischenstopp auf dem Weg nach Frankreich versichert. Doch es wird vor allem an Macron liegen, ob die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer tatsächlich einen Aufschub gewähren, der Großbritannien und auch die EU vor womöglich chaotischen Folgen eines ungeregelten Austritts bereits ab diesem Freitag bewahrt. May musste deshalb vorab den französischen Präsidenten von den Vorzügen einer verlängerten Austrittsfrist für sein Land und für Europa überzeugen.

Vor wenigen Tagen noch gab sich Macron kompromisslos. “Wenn Großbritannien fast drei Jahre nach dem Referendum nicht in der Lage ist, eine mehrheitsfähige Lösung zu präsentieren, dann hat es de facto selbst entschieden, ohne ein Abkommen auszuscheiden. Ich sage es noch mal mit aller Entschiedenheit: Unsere Priorität muss das gute Funktionieren der EU und des Binnenmarktes sein. Die EU kann nicht auf Dauer in Geiselhaft genommen werden für die Lösung einer politischen Krise in Großbritannien.”

Genau die Funktionsfähigkeit der EU steht aber womöglich auf dem Spiel. “Meiner Meinung nach wäre es ein strategischer Fehler, einen kurzen Aufschub von ein paar Wochen oder Monaten zu verweigern”, sagt Olivier de France, Forschungsdirektor am Pariser Thinktank Iris. Kaum jemand mache heute mehr die EU für den Brexit verantwortlich. Wenn sie aber jetzt einen kurzen Aufschub verweigere, “dann macht sie sich in den Augen der Menschen und womöglich auch in den Geschichtsbüchern schuldig an einem ungeregelten Austritt. Sie würde als Gemeinschaft dastehen, die Strafe und Vergeltung priorisiert.”

Frankreich ist gegen eine zu lange Fristverlängerung

Das kann gerade ein Emmanuel Macron nicht wollen, der sich die Rettung der EU vor dem Verdruss der Bürger und dem Aufschwung der Populisten auf die Fahnen geschrieben hat. Zudem hat Frankreich nicht vor, auf die Briten als Partner in der Verteidigungs- oder Migrationspolitik zu verzichten. 

Noch als Wirtschaftsminister unter Präsident François Hollande und dann als dessen Nachfolger im Élysée-Palast hatte er zwar den Brexit stets auch als große Chance für Frankreich betrachtet, um so politisch und wirtschaftlich an Einfluss und Gewicht zuzulegen. Ihn trieb mehr als das Spiel Good cop, bad cop, als das die Rollenverteilung zwischen einer nachsichtigen Bundeskanzlerin und einem unversöhnlich auftretenden französischen Staatschef oft dargestellt wird. Frankreich lockte bereits Hunderte Banker aus London nach Paris, breitete Forschungs- und Entwicklungsabteilungen von Industrieunternehmen den roten Teppich aus. Mit dem ehemaligen Notenbankchef Christian Noyer und dem Aufsichtsratschef des Rüstungsunternehmens Safran, Ross McInnes, sind dazu nach wie vor zwei prominente und gut vernetzte Missionare im Auftrag der französischen Regierung am Werk. “Für uns geht es darum, davon zu profitieren”, lautet die Brexit-Devise in Paris. 

Doch angesichts der Vorstellung, als Buhmann dazustehen, der alles nur noch schlimmer macht, lenkt auch Macron nun ein. Ein bisschen zumindest, und das könnte die Kompromisslinie beim heutigen Gipfeltreffen sein. “Wir sind mit einer Verschiebung des Brexits einverstanden, aber sie kann nur ein Mittel sein, wenn es einen Plan und Garantien gibt”, hieß es am Dienstag im Élysée. Ein Brexit-Aufschub um ein Jahr, wie ihn EU-Ratspräsident Donald Tusk ins Spiel brachte, ist den Franzosen zwar zu lang. Aber eine Fristverlängerung bis Ende des Jahres scheint möglich.

Aufschub soll es nur gegen Bedingungen geben

Im Gegenzug soll sich Großbritannien verpflichten, die EU in den nächsten Monaten nicht zu lähmen. Etwa, wenn es um die Verhandlungen über das Budget für die Jahre 2021 bis 2027 oder die Ernennung des nächsten Kommissionspräsidenten geht. Der Vorbehalt ist nachvollziehbar: Ein Aufschub bedeutet, dass die Briten an der Wahl des Europäischen Parlaments teilnehmen, und Brexit-Hardliner in London haben schon damit gedroht, gegen alles Mögliche zu stimmen, wenn der Austritt tatsächlich verzögert wird. 

“Ein langer Aufschub würde die Gefahr bergen, dass London noch einmal seine Ziele überdenkt, sagt Iris-Experte Olivier de France. “Das würde erneut Unsicherheit schüren und wäre deshalb vor allem aus wirtschaftlicher Sicht sehr schlecht.” Dass Paris aber komplett blockt und damit die in den vergangenen zwei Jahren sorgsam gewahrte Einheit der EU unterminiert, hält auch Anand Menon, Direktor des britischen Thinktanks UK in a Changing EU, für unwahrscheinlich. Das, sagt er, sei eben der Unterschied zu De Gaulle: “Mit harten Bandagen gegen die Briten zu kämpfen mag gut für die Innenpolitik in Frankreich sein. Aber in den Sechzigerjahren war Frankreich sehr viel mächtiger als heute, und die Gemeinschaft hatte nur sechs Mitglieder.”

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