Im Londoner Stadtteil Hackney hat sich unter der S-Bahn das Café Tempesta
eingenistet, eine heimelige Höhle mit abgewetzten Ledersesseln. Der Wirt hat einen buschigen
Schnauzer und zerteilt die Orangen für den frisch gepressten Saft persönlich. Für ihn ist es
ein besonderer Tag: Zum ersten Mal serviert er den Saft mit Metallstrohhalm. Leider erklärt
ihm ein Stammgast sogleich, dass ein Metallstrohhalm in der Herstellung ebenso viel Energie
koste wie 10.000 Plastikstrohhalme.
Es ist mal wieder der gut gemeinte Versuch, die Welt zu retten, nur um sofort in das nächste Ökodilemma zu schlittern. Nicht der Rede wert, wäre da nicht diese merkwürdige Betriebsamkeit im Café Tempesta. Morgens kommt alle paar Minuten jemand durch die Tür und verschwindet im hinteren Bereich, ohne etwas zu bestellen. Das Café hat einen Hinterausgang, und der ist so etwas wie Gleis 9 ¾ in
Harry Potter-Romanen: der Zugang in eine Zauberwelt. Die Männer und Frauen gehen ein paar Schritte über den Hof, öffnen eine vergitterte Tür, gehen eine Treppe hoch und setzen sich in einem Großraumbüro an Arbeitsplätze mit zwei Bildschirmen. Es sind Rechtsanwälte, und was sie hier machen, ist eine Art grüne Magie.
Sie haben in Polen die Abholzungen im Białowieża-Urwald gestoppt und sind gegen zwölf geplante Kohlekraftwerke vor Gericht gezogen. Sie haben dreimal die britische Regierung verklagt, weil deren Luftreinhalteplan zu lasch war, und dreimal gewonnen. Sie schulen chinesische Richter in Umweltrecht. Sie bieten Energiekonzernen und der Fischerei-Lobby die Stirn. Auf das Konto dieser Rechtsanwälte gehen auch die Fahrverbote für Dieselautos in Deutschland, und sie haben das Strohhalmverbot in der EU mit durchgesetzt.
Dies ist das nächste Level der Operation Weltrettung. Das erste Level ist die Wissenschaft. Sie schreibt Berichte, die niemand liest. Das zweite Level ist die Politik. Sie beschließt Abkommen, die niemand befolgt. Das dritte Level ist die Öffentlichkeit. 50 Tipps, wie du die Welt retten kannst. Hat irgendwie nicht geklappt. Nun also Level 4: die Juristen.
ClientEarth heißt die Nichtregierungsorganisation (NGO) mit Hauptsitz in London-Hackney. Im Großraumbüro wird sorgfältig der Müll getrennt, liegen Fahrradhelme neben Müsligläsern. Die Aussicht geht auf den Park London Fields und seine Eichhörnchen. Die Konferenzräume sind nach Umweltabkommen benannt: Rio, Nairobi, Montreal, Paris, Stockholm, Aarhus. Von hier aus skypen die 67 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte mit Verbündeten in aller Welt.
Sie haben an Top-Universitäten in aller Welt studiert, Harvard, Oxford, Cambridge, Berlin, London, Paris, Warschau, Yale, viele haben für große Anwaltskanzleien gearbeitet und Weltkonzerne vor Gericht vertreten. Heute haben sie nur noch einen einzigen Klienten: Planet Erde. Die meisten verdienen weniger Geld als früher. Ihr Bonus bemisst sich nicht mehr in Pfund oder Euro, sondern in Sinnhaftigkeit. Vor Kurzem hat ClientEarth ein Büro in Berlin eröffnet.
Die Umwelt mithilfe von Paragrafen zu schützen klingt zwar wenig originell. Naturschützer verzögern Großprojekte gern mithilfe seltener Tierarten. Bechsteinfledermaus, Kamm-Molch, Großtrappe, Kleine Hufeisennase, alles aktenkundige Blockade-Tiere. Doch die Anwälte von ClientEarth können mehr. Im Konferenzraum “Rio” gewähren sie ZEIT WISSEN zwei Tage lang Einsicht in die Akte Weltrettung.
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