Weiterleben an sich kann niemals ein Schaden sein – auch wenn es mit Schmerz, wiederkehrenden Lungenentzündungen und Druckgeschwüren verbunden ist. Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) heute entschieden und damit die Klage eines Sohns zurückgewiesen, der vom Hausarzt seines verstorbenen demenzkranken Vaters Schmerzensgeld bekommen wollte. Der Sohn hatte vor allem gegen eine Magensonde geklagt, die seinem Vater gelegt wurde. Diese habe das Leben des Vaters und vor allem sein Leiden unnötig verlängert. Das Oberlandesgericht München hatte dem Kläger noch 40.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen. Dieses Urteil hat der BGH nun aufgehoben.
Der Fall und das Urteil sind kompliziert, weil verschiedene Dinge zur Verhandlung standen. Vordergründig ging es darum, dass Ärztinnen und Ärzte die Angehörigen oder Kranken darüber aufklären müssen, welche Folgen ein Eingriff hat. Lindert er Leid und verbessert die Prognose oder dient er nur dazu, das Leben zu verlängern, wie im vorliegenden Fall mit zunehmender Abhängigkeit und dem Zerfall der kognitiven Funktionen verbunden? Das Legen einer Magensonde bei einer stark fortgeschrittenen Demenzerkrankung ist vor allem Letzteres, darüber sind sich Ärzte weitgehend einig (Bundesärztekammer, 2018). Die Magensonde war, in anderen Worten, medizinisch nicht sinnvoll. Das aber habe der Hausarzt dem Betreuer des Patienten, einem Münchner Rechtsanwalt, nicht klargemacht. Und so hätten weder der Betreuer noch der Sohn, der zum Zeitpunkt der Entscheidung in den USA lebte, das Wissen gehabt, um der Sondenernährung zu widersprechen.
Ein Kind kann niemals “Schaden” sein
Auch wenn das stimmen mag, machte die Vorsitzende Richterin des BGH klar, dass es in dem Urteil um weit Grundsätzlicheres geht als die ärztliche Aufklärungspflicht. “Das menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu”, sagte sie. Natürlich sei es in Ordnung, wenn ein Mensch sein eigenes Leben für unwert halte und sich deshalb entscheide, sterben zu wollen. Ganz anders aber verhalte es sich mit der staatlichen Gewalt und Rechtsprechung. Sie könne niemals das Urteil fällen, das Leben eines Patienten sei nicht mehr lebenswert oder gar ein Schaden. Deshalb sei auch Schmerzensgeld nicht angebracht. Leidvolles Weiterleben lasse sich nicht gegen den Tod aufwiegen.
Das Urteil ist, was diesen Punkt betrifft, sehr klar. Und es bekräftigt vorangegangene Entscheidungen, wie zum Beispiel ein BGH-Urteil von 1983. Damals hatte eine Mutter, die während der Schwangerschaft Röteln bekam und später wohl deshalb ein Kind mit Behinderung zur Welt brachte, ihren Frauenarzt verklagt. Dieser solle Schmerzensgeld für die entstandene Behinderung bezahlen, weil er die werdende Mutter nicht darüber aufgeklärt habe, dass die Rötelninfektion womöglich eine Behinderung verursacht. Sie hätte wohl, hätte sie davon gewusst, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen. Schon damals hatte der BGH geurteilt, es stünde dem Gesetzgeber nicht zu, das Kind zum “Schaden” zu erklären.
Diese Art der Rechtsprechung ist von einer Vorsicht geprägt, die aus historischer Perspektive absolut verständlich – und richtig – ist. Die Nationalsozialisten hatten das Leben von Menschen mit geistigen Behinderungen und kranken Patienten massenhaft als “lebensunwert” bezeichnet und sie mit Medikamenten oder in Gaskammern umgebracht. Unter Mithilfe von Ärzten – und beschönigend “Euthanasie” (Griechisch für: “guter Tod”) genannt – wurden so Hunderttausende ermordet. Der Begriff “lebenswertes Leben” ist seitdem vergiftet und die Debatte um Sterbehilfe (im Englischen übrigens: “Euthanasia“) wird hierzulande anders geführt als etwa in der Schweiz oder den Niederlanden. Es gibt ein größeres Bewusstsein dafür, wie stark Urteile über den Wert eines Lebens von politischen Erwägungen und gesellschaftlichen Strömungen abhängen können und dass darin eine große Gefahr steckt. Dass Diskussionen derart geführt werden, ist gut. Genauso, dass der BGH daran erinnert.
“Übertherapie am Lebensende wird zentrale medizinethische Herausforderung”
Und trotzdem lässt sich das Urteil des BGH auch kritisch betrachten. Die Medizin hat erstaunliche Fortschritte gemacht und kann mit Apparaten und Eingriffen das Leben oftmals um Jahre verlängern. Deshalb geht dem Tod von schätzungsweise der Hälfte der Europäer die aktive Entscheidung voraus, die Therapie zu beenden oder zu begrenzen (auf Intensivstationen sogar bei 90 Prozent, siehe zum Beispiel: Ethik in der Medizin: Winkler et al., 2012). In dieser Versorgung von Schwer- und Todkranken, von Menschen mit Demenz und Krebs, läuft inzwischen etwas schief. Von Beatmungen über Chemotherapien, Bestrahlung und künstliche Ernährung bis hin zur Wasserzufuhr: Viel zu oft wird am Lebensende viel zu viel getan. “Die sogenannte Übertherapie am Lebensende, die mit Blick auf das Patientenwohl meist de facto eher eine Untertherapie darstellt, [wird] in den nächsten Jahren zu einer der zentralen medizinethischen Herausforderungen”, schreibt der Medizinethiker Ralf Jox von der LMU München (Ethik in der Medizin: 2017). Das anzumahnen hat der BGH verpasst – obwohl man gut argumentieren kann, dass im verhandelten Fall übertherapiert wurde. Was man in dem Urteil vermisst, ist ein klares Signal an Ärztinnen und Angehörige: Lernt, loszulassen, wenn ein Kranker nicht mehr leben will!
Die Zahlen sind deutlich: Deutschland sticht im weltweiten Vergleich durch besonders viel Überversorgung, also medizinisch nicht angezeigte, womöglich sogar schädliche Therapien heraus (Lancet: Brownley et al., 2017). Und weltweite Studien zeigen, dass Übertherapie am Lebensende erschreckend häufig ist (International Journal for Quality in Healthcare: Cardona-Morell et al., 2016 oder Annals of Internal Medicine: Lynn et al., 1997). So beklagte der bekannte Palliativmediziner Gian Domenico Borasio im vergangenen Jahr bei ZEIT ONLINE eine Übertherapie Krebskranker am Lebensende. Es würden mitunter teure Chemotherapien verabreicht, die die Menschen “schlechter und früher sterben” ließen (New England Journal of Medicine: Temel et al., 2010). Und in einer Interview-Studie unter Schweizer Ärzte gaben die allermeisten an, schon einmal erlebt zu haben, dass ein Patient weiterbehandelt wurde, obwohl “ein Therapieverzicht sinnvoll gewesen” wäre (Palliativmedizin: Schleger et al., 2008).
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