An deutschen Bahnhöfen wird verstärkt gewarnt: “Aggressive
organisierte Bettelgruppen” seien als Zeitungsverkäufer unterwegs, besondere
Achtsamkeit sei geboten. Ob tatsächlich organisierte
Banden am Werk sind, lässt sich nicht belegen. Doch das bisweilen offensive Betteln
scheinbarer Verkäufer macht Straßenmagazinen wie der Hamburger Hinz&Kunzt
zu schaffen. Vom Dilemma, sich wehren zu müssen und helfen zu wollen, berichtet
Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer im Interview.
ZEIT ONLINE: Wer sind die “aggressiven, organisierten
Bettelgruppen”, vor denen an Bahnhöfen gewarnt wird?
Karrenbauer: Nach meiner Erfahrung sind das am
Hamburger Hauptbahnhof sechs, sieben Leute. Vielleicht kennen die sich,
vielleicht ist es auch eine Familie. Aber dass es sich da um organisierten
Bettelgruppen oder Banden handelt, können wir nicht bestätigen. Natürlich kann
man nicht ausschließen, dass es sowas gibt, aber wir haben darauf nie konkrete
Hinweise gehabt. Meine Theorie ist eher, dass Leute an kriminelle Banden
glauben wollen, um sich nicht so intensiv mit der Armut der Menschen
auseinandersetzen zu müssen. Wenn ich mir vorstelle, dass wirklich alle
Bettler, die ich unterwegs sehe, am Existenzminimum sind und nicht wissen, was
sie essen und wo sie schlafen sollen – das ist schwer auszuhalten.
ZEIT ONLINE: In Hamburg fallen immer wieder Leute in
der Stadt auf, die mit Hinz&Kunzt in der Hand betteln. Was ist da los?
Stephan Karrenbauer: Die Armut auf der Straße wird
einfach sichtbarer. Wir haben immer mehr Menschen, die darauf angewiesen sind,
mit dem Verkauf von Straßenzeitungen oder eben mit Betteln über die Runden zu
kommen. Darunter gibt es leider auch Personen, die die Zeitung zum Betteln
benutzen oder Leute auf der Straße belästigen, etwa indem sie sich ihnen in den
Weg stellen.
ZEIT ONLINE: Woran liegt es, dass die öffentlich
sichtbare Armut zunimmt?
Karrenbauer: Die neuste Untersuchung der
Sozialbehörde zeigt, dass wir in Hamburg etwa 2000 Personen haben, die auf der
Straße leben. Mehr als 60 Prozent sind aus Osteuropa gekommen in der Hoffnung,
hier Arbeit zu finden. Wir haben offene Grenzen: Jeder Mensch in Europa darf mindestens
drei Monate in einem anderen Land der EU Arbeit suchen. 2014 haben Rumänien und
Bulgarien die volle EU-Zugehörigkeit bekommen. Von dort sind nun viele
unterwegs, um ihre Familien in der Heimat zu unterstützen. Wenn sie hier keine
Arbeit finden, versuchen einige über die Runden zu kommen, indem sie Betteln,
Pfandflaschen sammeln, Musik machen, offiziell oder scheinbar die
Hinz&Kunzt verkaufen – immer in der Hoffnung, dass sich ihre Situation bald
bessert.
ZEIT ONLINE: Wie wirkt sich die Konkurrenz von
Bettlern, die sich als Hinz&Kunzt-Verkäufer ausgeben, auf die “echten” Verkäufer
aus?
Karrenbauer: Genauso wie viele Passanten sind die
meisten Hinz&Kunzt-Verkäufer davon genervt. Wenn die Straßenzeitung zum
offensiven Betteln benutzt wird, ist das natürlich imageschädigend für alle –
auch für die, die sich an die Regeln halten. Hinter dem Verkauf steht ja ein
System. Zum Beispiel sollen die Leute nicht gleichzeitig die Hinz&Kunzt
verkaufen und betteln. Solche Regeln sind entscheidend, damit wir in der Stadt
anerkannt sind und nachhaltig helfen können. Wenn das immer wieder missachtet wird,
dann schadet uns das. Unsere Verkäufer fordern uns dann auf: Da müsst ihr hin,
das müsst ihr schnell klären. Wir versuchen natürlich, mit den Bettlern ins Gespräch
zu kommen und denen unsere Verkaufsregeln zu erklären. Allerdings ist es schwierig,
ein Einsehen zu bewirken. Der Sozialarbeiter hat ja immer leicht reden, aber
die Leute wissen einfach nicht, wie sie sonst über die Runden kommen sollen.
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