Eine bisschen wirkt es wie ein Familienfest, was sich an diesem Freitagabend in einer ehemaligen Fabrikhalle in Berlin zuträgt. In dem großen Raum treffen sich ältere und jüngere Menschen, dazwischen laufen kleine Kinder herum. Man fällt sich in die Arme und begrüßt sich, “Ach du, auch hier, endlich mal wieder.”
Die Grünen haben eingeladen, 800 Menschen sind gekommen. Parteimitglieder und Neugierige, Menschen, die die Partei einst mitgegründet haben und solche, die erst seit einem Jahr dabei sind. “Wir haben heute Grund zum Feiern”, ruft Annalena Baerbock, die Parteivorsitzende, den Gästen zu. Schließlich sei vor 40 Jahren mit der Sonstigen Politischen Vereinigung/Die Grünen anlässlich der Europawahl ein Vorläufer der Grünen gegründet worden. Der andere und eigentliche Grund des Treffens allerdings ist das neue Grundsatzprogramm, an dem die Partei derzeit arbeitet.
Ein Jahr lang wurde auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichsten Zirkeln darüber diskutiert. Nun liegt ein 65-seitiger Zwischenbericht vor, über den die Teilnehmer des Konvents zwei Tage diskutieren wollen.
Neue grüne Stärke
Grund zum Feiern haben die Grünen allerdings auch in anderer Hinsicht: Denn seit Robert Habeck und Baerbock vor etwas mehr als einem Jahr den Parteivorsitz übernommen haben, ist es mit der Partei steil nach oben gegangen. Nicht nur, dass die Grünen in Umfragen seit Monaten bei knapp 20 Prozent liegen. Unmittelbar vor dem Konvent hat Habeck es sogar geschafft, Angela Merkel in einer Umfrage von Platz eins der wichtigsten Politiker zu verdrängen. Darüber hinaus wächst die Partei auch real, nämlich an Mitgliedern. Seit 2017 sind 12.777 Neulinge dazugekommen, ein Zuwachs von fast 20 Prozent.
Dieser Erfolg geht sicher nicht nur auf das Konto der Vorsitzenden. Er verdankte sich auch den äußeren Umständen: Der schlechten Performance der anderen Parteien etwa oder der Tatsache, dass eines der Urthemen der Grünen, nämlich die Klimakrise, dank des vergangenen Hitzesommers derzeit wieder Konjunktur hat. Doch klar ist: Die Grünen haben einen Lauf. Die Debatte über ein neues Grundsatzprogramm kommt da gerade recht. Eignet sie sich doch bestens, um angesichts der neuen Stärke die eigene künftige Rolle zu klären. Wo kommen wir her, wo wollen wir hin? Und wie lässt sich der derzeitige Erfolg verstetigen?
Auch wenn das eigentliche Programm erst in anderthalb Jahren fertig sein wird: Wohin die Reise gehen soll, lässt sich in Teilen auch jetzt schon erkennen. Vor dem Begriff Volkspartei beispielsweise schrecken die Grünen zurück. Eine für alle, das passe nicht mehr in Zeiten einer immer komplexer werdenden Gesellschaft, haben Habeck und Baerbock schon vor dem Konvent betont. Vielleicht steckt dahinter aber auch die Angst, dass man sich mit einer solchen Zielvorgabe schnell übernehmen könnte. Schließlich ist mit dem Begriff Volkspartei ja in der Regel der Anspruch verbunden, es bei Wahlen auf 30 und mehr Prozent zu bringen, eine Zielmarke, von der die Grünen jenseits von Baden-Württemberg dann doch noch weit entfernt sind.
Die neue Bündnispartei
Passender erscheint dem Vorsitzendenduo da der Begriff der Bündnispartei. Eine Partei also, die nach vielen Seiten anschlussfähig ist. Tatsächlich regieren die Grünen in den Ländern ja schon heute mit vielen unterschiedlichen Partnern: Mal mit SPD und Linken, mal mit CDU und FDP, oder – wie in Sachsen-Anhalt – gar mit SPD und CDU gleichzeitig. Diese vielfältige Anschlussfähigkeit ist ein entscheidender strategischer Vorteil der Grünen, den sie in dieser Weise nur noch mit der SPD teilen. Er wird sie, so hoffen sie jedenfalls, früher oder später auch in die Bundesregierung tragen.
Doch die Bündnispartei will sich ihre Partner eben nicht nur unter den politischen Parteien, sondern auch unter den gesellschaftlichen Akteuren suchen. Künftig will man dabei auch über das klassisch grüne Milieu der Umweltinitiativen und Menschenrechtsorganisationen hinaus gezielt zum Beispiel mit Kirchen oder Unternehmerverbänden kooperieren, je nachdem, mit wem die Lösung eines Problems am erfolgversprechendsten erscheint. Egal ob es um die Rettung des Klimas, die Regulierung der Finanzmärkte oder den Zusammenhalt in Europa geht: “Die Aufgaben sind heute so groß, dass keine Partei alleine sie bewältigen kann”, sagt Baerbock. Auch deswegen sei der Bündnisgedanke so wichtig.
Nicht zuletzt will man sich aber auch für neue Wählerschichten öffnen. “Unsere Politik richtet sich an alle Bürger*innen”, heißt es in gendergerechter Sprache in dem Zwischenbericht. Wobei schon allein das Sternchen wohl reichen dürfte, den einen oder anderen Bürger, eventuell auch die Bürgerin, abzuschrecken – auch wenn im ganzen Papier nie von den “Grünen”, sondern immer nur von “wir” die Rede ist.
Optimismus ist Trumpf
Erreichen wollen die Grünen diese Öffnung vor allem mit viel positiver Ausstrahlung. Statt Untergangsszenarien zu beschreiben, wollen sie lieber den Optimismus stärken, dass die Probleme bewältigbar sind. “Veränderung in Zuversicht”, lautet der Titel. Und auch als Verbots- und Verzichtspartei wollen sie nicht mehr wahrgenommen werden. “Das System ändern, nicht den Menschen”, lautet eine Zwischenüberschrift. Versprochen wird, dass die “sozial-ökologische Transformation” zu einem “Gewinn an Lebensqualität und Wohlstand” führt. Man könne keine Klimapolitik machen, von der die Menschen nichts merken, hat CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer in dieser Woche gesagt. Falls auch die Grünen dieser Meinung sein sollten, dass es ohne individuelle Zumutungen kaum gehen wird, ist es ihren Überlegungen zum Grundsatzprogramm jedenfalls nicht anzumerken.
Vieles in dem Papier ist nicht neu, doch in mancher Hinsicht setzten die Grünen eher untypische Akzente, so etwa ihr klares Bekenntnis zur Marktwirtschaft. “Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, bietet die soziale Marktwirtschaft beste Voraussetzungen für ökologisches Wirtschaften”, heißt es etwa. Wirtschaftswachstum wird grundsätzlich bejaht, auch wenn es ein “qualitatives Wachstum ” sein müsse. Technologischen Fortschritt wollen sie vor allem als Chance begreifen. “Keine Lösung darf von vornherein ausgeschlossen sein”, lautet das neue Credo, ein Satz, der Folgen haben könnte etwa für das grüne Verhältnis zur Gentechnik.
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