In zehn Tage muss Großbritannien nach bisherigem Stand die EU verlassen. Nur wie? Im Parlament wird seit Monaten über den richtigen Weg gestritten. Zwei Mal ist der von Premierministerin Theresa May mit der EU ausgehandelte Kompromiss bereits im Unterhaus gescheitert. Parlamentssprecher John Bercow hat an eine mögliche dritte Abstimmung harte Bedingungen geknüpft. Warum Theresa May am Ende doch gewinnen könnte, erklärt Andrew James Johnston, Professor für Englische Philologie an der Freien Universität Berlin.
Die
Britinnen und Briten befinden sich in ihrer größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Kein
Wunder, dass die Erinnerung an ihre ,größte Stunde‘ – Winston Churchill: “their
finest hour” – das kulturelle Begleitprogramm zum Brexit bildet: Der Markt ist
überschwemmt von Büchern, Filmen und Fernsehserien über das Jahr 1940, als
Churchill im Angesicht höchster Gefahr an die Macht kam. Der Erz-Brexiteer Boris Johnson ist selbst Autor eines hymnischen Buches über Churchill, und im letzten
Jahr bekam Gary Oldman für seine Darstellung Churchills in den Schicksalstagen
von 1940 den Oscar als Bester Hauptdarsteller. Wenn es heißt, die Briten hätten
den Verlust ihres Empires nicht verkraftet, mag das stimmen. Was sie aber noch
weniger verkraftet haben, ist der Heldenmythos des Jahres 1940, als sie Europa
und die Welt retteten, weil sie sich weigerten, sich Hitler zu beugen. Diese
nicht ganz falsche Wahrnehmung ihrer historischen Rolle macht es ihnen heute
schwer, sich mit der Europäischen Union zu identifizieren.
Natürlich ist jeder Vergleich der
Brexit-Krise mit 1940 absurd. Die EU ist nicht Hitler, selbst im schlimmsten
Fall droht den Briten kein Untergang. Ein Aspekt der heutigen Krise erinnert allerdings
durchaus an 1940: die Verquickung der nationalen Schicksalsfrage mit Partei-
und Personalpolitik. Im Kampf um Brexit geht es nicht allein um britische
Interessen oder die britische Identität, sondern auch um die Macht der Parteien
und die Macht in den Parteien. Das ist eigentlich ganz selbstverständlich und
die europäische Kritik daran klingt ein wenig heuchlerisch. In der Politik geht
es immer um beides zugleich: um Macht und Personen einerseits, um Sachfragen
andererseits. Solange diese Verquickung zu halbwegs akzeptablen Ergebnissen
führt, ist nichts gegen sie einzuwenden. Schließlich käme kein Deutscher ernsthaft
darauf, die Wiedervereinigung nur deshalb rückgängig machen zu wollen, weil sie
Helmut Kohl den schon nicht mehr für möglich gehaltenen Wahlsieg von 1990
bescherte.
Eine Frage der Parteipolitik
Natürlich hinkt auch der Vergleich mit Kohl, aber
nicht so sehr, wie es auf den ersten Blick scheint. Zwar war die deutsche
Wiedervereinigung die Folge eines unvorhergesehenen historischen Glücksfalls,
während das Votum für den Brexit das überraschende Ergebnis eines
verantwortungslosen Spiels mit dem nationalen Schicksal war. Aber unerwartet
waren sie beide. Weder Premierminister Cameron, noch Johnson und nicht einmal
Nigel Farage hatten ernsthaft mit dem Ergebnis des Referendums gerechnet.
Johnson hatte sich ja erst im letzten Moment für den Brexit entschieden: Er
hatte vor allem seinen Rivalen Cameron schwächen wollen. An einen Erfolg des
Referendums hatte er selbst nie geglaubt. Bei aller patriotischen Begleitmusik war
der Brexit von Anfang an eine Frage von Parteitaktik und Personalpolitik
gewesen. Und das bedeutet, dass der Schlüssel zum Brexit gerade auch in jener speziellen
Mischung aus nationaler Selbstüberschätzung und parteitaktischem und
personalpolitischem Kalkül liegt, die überhaupt erst zum Referendum führte.
Auch 1940 fanden in London parteitaktische
und personalpolitische Dramen statt, die von unerwarteten Ereignissen ausgelöst
und verschärft wurden. Nur Tage vor dem deutschen Angriff auf Dänemark und
Norwegen hatte der britische Premier Chamberlain erklärt, dass die Deutschen
den Sieg schon verpasst hätten – und ein paar Wochen später starteten sie auch
noch ihre Offensive gegen Frankreich. Als in England Anfang Mai 1940 von allen
Seiten eine Regierung der nationalen Einheit gefordert wurde, war Chamberlain
nicht mehr zu halten. Die oppositionelle Labour-Partei war zwar bereit, in eine
nationale Regierung einzutreten, nur nicht unter Chamberlain. Zwei Nachfolgekandidaten
standen bereit: Marineminister Churchill und Außenminister Halifax. Churchill,
der bei Kriegsbeginn auf Druck der Öffentlichkeit Minister geworden war, war in
seiner eigenen konservativen Partei sehr unbeliebt. Lord Halifax hatte die
Appeasement-Politik mitgetragen, war aber geschickt genug gewesen, sich
rechtzeitig davon zu distanzieren. Er war Liebling des Establishments und
Favorit der Tories. Churchill nannte ihn “the Holy Fox”: der Lord liebte die
Fuchsjagd und wirkte für die Annäherung der anglikanischen Kirche an den Papst.
Sein großes Karriereziel war es, Herzog zu werden. Umso erstaunlicher daher,
dass am Ende Churchill das Rennen machte und nicht der haushohe Favorit
Halifax. In seinen Memoiren schildert Churchill die Szene so: In der
entscheidenden Sitzung mit Halifax und Chamberlain setzte er sich durch, indem
er einfach schwieg, als Chamberlain Halifax vorschlug. Er blieb so lange still,
bis Halifax von selbst verzichtete.
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