Ein halbes Jahrhundert nach dem Tod von
Leonardo da Vinci erscheint die erste Biografie über ihn. Ihr Autor ist der
Hofmaler der Medici, Giorgio Vasari. Selbst zu einer Zeit, in der kritische
Töne in einer Biografie noch nicht zum guten Ton gehören, fällt der
Lebensbericht über die Maßen schwärmerisch aus. Nicht nur einmal verwendet
Vasari das Adjektiv “göttlich”, um das Außergewöhnliche des Mannes aus Vinci zu
beschreiben. Vasari gibt viele Beispiele für Leonardos Genialität, erzählt von
der Verzweiflung seines Arithmetiklehrers angesichts der kenntnisreichen Fragen
des Heranwachsenden, von seinem anmutigen Lyraspiel und widmet sich in höchsten
Tönen der Bewunderung dem Maler Leonardo. Von Erfindungen Leonardos allerdings
schreibt Vasari nicht ein einziges Wort und gibt damit indirekt einen
entscheidenden Hinweis. Unter den unmittelbaren Hinterlassenschaften Leonardos,
die Vasari einsehen durfte, findet sich kein Modell, das die
Funktionstüchtigkeit einer Erfindung demonstrieren sollte. Hätte es ein solches
gegeben, wäre Vasari mit Sicherheit nicht müde geworden, es in schillernden
Farben zu schildern und zu preisen. So aber besingt Vasari im wesentlichen die
Bilder Leonardos, “die jeden noch so kühnen Künstler zum Verzweifeln und
Erzittern brachten”.
Selbstredend müssen nicht reihenweise
patentamttaugliche Prototypen vorliegen, um jemanden mit Recht als Erfinder zu
titulieren. Allerdings sollte Skepsis angesagt sein, wenn ein Erfinder kein
einziges Modell selbst gebaut oder in Auftrag gegeben hat. In der Tat existieren
keine Zeugnisse von Leonardos Erfindergeist, abgesehen von den Skizzen, in die
er zum Teil so viel seines zeichnerischen Talents hineingelegt hat, dass man
als Betrachter seine Kanalbaumaschine bereits arbeiten, seinen Hubschrauber in
die Luft aufsteigen, seine Dampfkanone schießen und sein Auto fahren sieht.
Erliegt man diesem trügerischen Schein jedoch nicht, wird die
Funktionsuntüchtigkeit der angeblichen Erfindungen Leonardos offenbar.
Erst im 20. Jahrhundert entsteht die
Idee, aus Leonardo den Erfinder zu machen, der er selbst niemals zu sein
behauptete. Vor allem Benito Mussolini wollte in Leonardo mehr als nur einen
genialen Maler sehen. Nachdem der Duce dessen langjährige Wirkungsstätte im
Mailänder Schloss besucht hatte, gab er am 31. Oktober 1936 die Order, eine
Ausstellung Leonardo da Vinci und die italienischen Erfindungen zu gestalten.
Drei Jahre dauerte die Vorbereitung. Leonardo avancierte in der Ausstellung zum
zweitgrößten Sohn Italiens – nach Mussolini. Er wurde nicht nur als Maler und
Zeichner gewürdigt, sondern vor allem als weit aus seiner Zeit herausragender
Ingenieur und Erfinder. Das Universalgenie Leonardo sollte zum Ausdruck
bringen, welch gewaltige Schöpferkraft im italienischen Volk steckte. Und zwar
immer schon.
Die Propagandamaschine lief auf
Hochtouren. Mussolini wollte bekanntlich das Römische Reich in seinen einstigen
Ausmaßen wiederherstellen. Bot sich da ein uritalienischer Maler, Architekt,
Wissenschaftler und Erfinder, der auf allen Gebieten Übermenschliches leistete,
nicht geradezu an, um die faschistische Diktatur mit einem Mythos zu zieren? So
wurden für die Leonardo-Ausstellung 1939 erstmals im großen Stile Modelle zu
Leonardos Skizzen angefertigt und damit der Startschuss gegeben für ein
“demagogisch verwertbares Leonardobild”, wie der im letzten Jahr verstorbene
italienische Kunsthistoriker und Leonardo-Experte Carlo Pedretti schrieb. Die
Ausstellung war als ideologischer Exportschlager geplant. Doch ihre Reise um
die Welt endete rasch. Über die USA gelangte sie nach Japan, wo sie bei einem
Luftangriff zerstört wurde.
Nach dem Ende der Diktatur in Italien
wurden die Legenden um Leonardo hartnäckig weitergestrickt. Merkwürdig
kritiklos übernahmen Publizisten und Ausstellungsmacher die Mär vom Erfinder
Leonardo. Vom Wasserski bis zum Differenzialgetriebe sollte er alles Mögliche
erfunden haben. Im Zeitalter des forcierten Spezialistentums kamen Geschichten
von einem Universalgenie aus längst vergangener Zeit offenbar gut an. Der
Geniekult verleitete auch Wissenschaftler dazu, die visionäre Kraft Leonardos
zu überschätzen. Man blättere nur in einem der vielen Bücher, die von den
Erfindungen Leonardos zu berichten vorgeben. Der englische Luftfahrthistoriker
Charles Gibbs-Smith zählt stolze 80 Erfindungen auf, die Leonardo zuzuschreiben
wären. Darunter findet sich das Schwingenflugzeug, der Helikopter, der Panzer
und die Riesenarmbrust ebenso wie das Kugellager, ein doppelarmiger Kran, das
Schaufelradboot, das U-Boot oder die Druckerpresse.
© Weltkunst Verlag
All das hat Leonardo da Vinci nicht
erfunden, und die Druckerpresse schon gar nicht! Die hatte nämlich der Mainzer
Goldschmied Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, schon mehr als zehn Jahre
vor Leonardos Geburt entwickelt. Seit 1465 – da war Leonardo gerade 13 Jahre
alt – wurde dieses revolutionäre Handwerk auch in Rom, Venedig, Padua und
Modena ausgeübt. Im Mannesalter verfügte Leonardo bereits selbst über mehrere
gedruckte Bücher. Unter anderem stand mit De re militari das erfolgreichste
Waffen- und Kriegsbuch der Renaissance überhaupt in seinem Regal. Roberto
Valturio fasst darin den Stand der Technik seiner Zeit zusammen. Ebenso wichtig
ist die Schrift De machinis libri X von dem eine Generation älteren Taccola,
den man den Archimedes von Siena nannte. Leonardo kopierte aus diesen Büchern.
Allerdings beherrschte er bereits die Perspektive, sodass sich die Zeichnungen
seiner Vorgänger dagegen wie Kindergekritzel ausnehmen. Leonardo malt mit
solcher Kraft, Präzision und Lebendigkeit, dass noch die beiläufigste Skizze
voller Evidenz scheint. Ganz sicher wird seine Darstellungsgabe einer der
Gründe für Leonardos irrtümlichen und späten Nachruhm als Erfinder sein. Man
tut Leonardo jedoch unrecht, wenn man ihn des Plagiats bezichtigt. Das Kopieren
und Verändern des Vorgefundenen ist seine Form des Lernens. Seine Notizbücher
mit Erläuterungen und Skizzen sind ausschließlich für den privaten Gebrauch.
Sie sind nicht zur Veröffentlichung bestimmt und stellen auch keine Vorstufen
von Publikationen dar, denn Leonardo hat sein Leben lang kein einziges Buch
herausgebracht.
Beim Entwurf seiner Flugschraube gibt
Leonardo eine beeindruckende Kostprobe seines zeichnerischen Könnens. Mit Feder
und Tusche malt er eine sich in zwei Windungen nach oben verjüngende
Vorrichtung. In der Mitte steht ein Pfahl, der offensichtlich am Boden des
Flugapparats drehbar gelagert ist. Neben der Zeichnung gibt Leonardo die
Materialien an: “Der äußere Rand der Schraube sei aus Eisendraht, so dick wie
eine Schnur.” Die Bespannung soll aus Leinwand gefertigt werden. Zur speziellen
Verdichtung schlägt Leonardo vor, “deren Poren mit Stärkekleister” zu
behandeln. Die Versteifungen der Leinwand will er aus “langen und dicken”
Rohren herstellen. Für den Radius der Luftschraube veranschlagt Leonardo acht
Braccia, also etwa 5,5 Meter. Ein wahrlich imposantes Gerät. Leonardo mahnt zu
großer Sorgfalt in der Ausführung, denn nur dann “wird diese Schraube sich in
der Luft emporschrauben und aufsteigen”.
Wie das konkret geschehen soll, verrät
Leonardo allerdings nicht und lässt damit die beiden Hauptprobleme unbehandelt.
Zuerst stellt sich natürlich die Frage des Antriebs. Wie kann die an der
breitesten Stelle elf Meter messende Holz-Leinwand-Draht-Konstruktion bewegt
werden? Mit etwas Fantasie wird man am unteren Ende des mittigen Mastes eine
horizontal durch das Holz laufende Stange erkennen. Die Lagerung des
Drehmechanismus könnte von zwei aufeinanderlaufenden Scheiben, wie sie auch
beim Roulettekessel Verwendung findet, geleistet werden. In diesem Fall wäre es
denkbar, die Luftschraube mit Menschenkraft anzuschieben. Mehrere Männer
müssten dann wie bei einer Ochsenmühle im Kreis laufen, bis sich der Apparat
schnell genug dreht, um sich in die Luft zu schrauben. Wäre das prinzipiell
möglich, würde sich jedoch spätestens an diesem Punkt der Effekt selbst
aufheben, da sich der am Boden noch vorhandene Gegendruck, mit dessen Hilfe der
Mast und damit die Flugvorrichtung gedreht wird, im Wortsinn in Luft auflösen
würde. Wenn die Luftschraube abhebt, hätten die Männer nämlich kein Widerlager
mehr, um ihre Kraft einzusetzen und die Luftschraube anzuschieben. Sie würden
gewissermaßen im Leerlaufmodus treten.
Eine andere Möglichkeit des Antriebs
wäre, wenn die Männer lediglich als Starterkommando eingesetzt würden. Sie
könnten die Luftschraube bis zur kritischen Geschwindigkeit anschieben, wenn
sie dann aufsteigt, blieben sie am Boden. Diese Option ist jedoch noch
unbefriedigender, da die Luftschraube dann ohne Passagiere und ohne Pilot sich
selbst überlassen wieder zu Boden stürzen und höchstwahrscheinlich in tausend
Teile zerbersten würde.
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