/Zensur in China: Winnie Puuh, der gefährliche Bär

Zensur in China: Winnie Puuh, der gefährliche Bär

Es war bei einem Treffen mit zwei Studentinnen in einem Pekinger Café, als mir bewusst wurde, wie die Internetzensur das Denken junger Menschen verändert. Das Gespräch drehte sich um lohnende Reiseziele in China und die Frage, welcher Ort sich eher für einen zweiwöchigen Urlaub im Sommer eigne: die Tropeninsel Hainan mit ihren Sandstränden oder die Westprovinz Xinjiang, wo man lange Wanderungen entlang tiefblauer Bergseen unternehmen kann? Irgendwann warf ich ein, dass in Xinjiang Hunderttausende Uiguren in Umerziehungshaft sitzen, weil sie als Islamisten verdächtigt werden. Ob sie schon einmal davon gehört hätten? Ungläubig fragte eine der beiden zurück: “Woher weißt du solche Dinge, aus dem Außennetz?” Ihre Freundin wies sie zurecht: “Natürlich, das ist ein sensibles Thema. Darum erfahren wir solche Nachrichten nicht.”

Den Begriff “Außennetz” – auf Chinesisch
waiwang
– hörte ich 2018 zum ersten Mal. Bis vor wenigen Jahren war auch in China das Internet einfach das Internet: Die Great Firewall, die Große Zensurmauer, war durchlässig genug, um nicht zwischen Innen und Außen unterscheiden zu müssen. Seit Xi Jinping die Zensur allerdings Jahr für Jahr verschärft und immer mehr ausländische Websites sperren lässt, gleicht das Internet in China zunehmend einem hermetisch abgeriegelten Intranet. Wer heute zwanzig ist und nicht im Ausland war, kennt Google, Facebook, Twitter und YouTube in der Regel nur vom Hörensagen.

Die chinesischen Digital Natives wachsen in einer Netzwelt auf, die die chinesische Geschichte ähnlich lückenhaft erzählt wie die Schulbücher, die sie auswendig lernen müssen: In dieser Welt gab es weder die von Mao verursachte Große Hungersnot noch die darauf folgende Kulturrevolution; die Studentenproteste von 1989 haben sich nie ereignet, Taiwan ist offiziell die 33. Provinz der Volksrepublik. Taucht ein Begriff auf, der eine Debatte auslösen könnte, wird er gesperrt: Hashtags wie #MeToo gefährden laut staatlicher Propaganda die soziale Harmonie und verschwinden wieder. Der Abschiedsbrief eines reichen Unternehmers, der sein Vertrauen in das chinesische System verloren hat und nun nach Europa ausgewandert ist – hunderttausendfach geteilt, binnen Stunden gelöscht. Der Wutausbruch einer Mutter über verunreinigte Grippe-Impfstoffe – sucht man danach, erhält man die Fehlermeldung “Inhalt nicht auffindbar”.

Manchmal verschwinden sogar Teile des Alphabets. Vergangenen März wurde der Buchstabe “n” tagelang aus dem Netz getilgt: In Peking tagte der Volkskongress, Xi Jinping hatte die unbefristete Verlängerung seiner Amtszeit durchgesetzt, und Memes machten die Runde, die auf die Selbstermächtigung des Präsidenten zum ewigen Alleinherrscher anspielten. Da “n” in der chinesischen Alltagssprache als Chiffre für Unendlichkeit benutzt wird, stand der Buchstabe in den Augen der Zensoren unter Generalverdacht. Zur selben Zeit wurde Winnie Puuh zur Comicfigur non grata: User hatten sich über die Ähnlichkeit des Präsidenten zu ihm lustig gemacht. Alle Winnie-Puuh-Fotos mussten also weg. Im Sommer wurde dann sogar der Disney-Film
Christopher Robin
verboten, weil Winnie Puuh darin eine prominente Rolle spielt.

Die meisten Bewohner des chinesischen Intranets verlassen es selten. Sie brauchen das Außennetz nicht: Mit der Super-App WeChat können sie chatten, Nachrichten lesen, mobil bezahlen, Flüge buchen und sogar Behördengänge erledigen. Um Wörter nachzuschlagen oder Fotos und Filme zu suchen, benutzen sie die Suchmaschine Baidu. Außerdem gibt es Plattformen wie Youku und Tudou, die chinesischen Gegenstücke zu YouTube. Und um sich in Kurzbeiträgen einem Millionenpublikum mitzuteilen, gibt es Sina Weibo, eine chinesische Variante von Twitter.

Weibo ist neben WeChat die wichtigste Nachrichtenquelle für chinesische Internetnutzer. An den Weibo-Posts kann man die Stimmung im Netz ablesen. Aber man muss schnell sein. Seit ich als
ZEIT-Korrespondentin in China arbeite, befolge ich eine Grundregel: Sobald mir jemand einen interessanten Link oder ein originelles Meme schickt, mache ich einen Screenshot – man weiß ja nie, ob die Seite in einer Minute noch aufrufbar ist. Die Smartphonespeicher vieler Chinesen sind voll von Bildschirmaufnahmen verbotener Blog-Einträge und Artikel. Als jpeg-Datei verbreiten sie sich eine Zeit lang weiter. Doch die Zensoren haben aufgeholt, ihre Algorithmen sind inzwischen so effizient, dass sie auch Bilder und Videos aus den Datenfluten filtern können.

Um den größten Teil der Arbeit muss sich die oberste Internetbehörde, die Cyberspace Administration of China, gar nicht kümmern. So gut wie alle Internetkonzerne – Sina, Baidu, Tencent –, aber auch kleine Computerspielfirmen übernehmen die Zensur selbst: Geschätzte zwei Millionen “Meinungsanalysten” beschäftigt Chinas Tech-Industrie. Die meisten Unternehmen haben eigene Löschabteilungen, manche lagern die Kontrolle an externe Zensurfabriken aus, wo Tausende schlecht bezahlte Uni-Absolventen rund um die Uhr im Schichtbetrieb die Plattformen von Großkunden durchforsten.

Um zu erfahren, wie die chinesische Zensur funktioniert, hilft es, ins Ausland zu gehen. An die Universität Berkeley in Kalifornien zum Beispiel, wo der Digitalforscher Xiao Qiang sein China Internet Project betreibt. Xiao, 57 Jahre alt, studierte in den Achtzigerjahren Astrophysik in China und den USA, über die blutige Niederschlagung der Studentenproteste 1989 wurde er zum Aktivisten und ging ins amerikanische Exil. 2003 gründete er in Berkeley das Portal China Digital Times, das unzensierte Nachrichten über China sammelt und veröffentlicht.

Xiao und seine Mitarbeiter blicken aus der Ferne in den Maschinenraum der chinesischen Zensur. Informanten aus den Pekinger Behörden stechen regelmäßig interne Memos zu Propaganda-Vorgaben an ihn durch, die auflisten, welche Skandale es herunterzuspielen gilt, über welche Ereignisse in welchem Ton berichtet werden soll oder was nicht erwähnt werden darf. Diese Memos geben den Konzernen eine inhaltliche Richtung vor, sagt Xiao Qiang. Der Staat muss allerdings keine offiziellen Verbotslisten mit gesperrten Begriffen aushändigen: Die Feinarbeit übernehmen die firmeneigenen Säuberungsabteilungen in vorauseilendem Gehorsam selbst. Manche Begriffe werden auf Dauer gesperrt, andere nur für einige Stunden, Tage oder Wochen.

Xiao und seine Mitarbeiter haben Sina Weibo besonders genau untersucht. Mit rund 400 Millionen aktiven Nutzern ist es weit größer und einflussreicher als Twitter. 2009, zwei Monate nachdem Twitter in China vom Netz genommen wurde, ging der Sina-Konzern mit seinem Kurznachrichtendienst live. Das Logo: ein rotes Auge, das Signalwellen sendet. Eine Metapher für den Bürger, der nun einen wachsamen Blick auf die Mächtigen wirft. Weibo löste eine Revolution aus: Zum ersten Mal gab es in der Volksrepublik ein öffentliches Forum, das mit dem staatlichen Informationsmonopol brach, zum ersten Mal einen Übungsplatz für Meinungsbildung. Doch in den vergangenen Jahren ist die Plattform zahmer geworden, die kommunistische Führung erobert Schritt für Schritt das Netz zurück. Inzwischen ist es wieder das Auge des Staates, das über den Bürger wacht.

Seit 2011 sammeln Xiao Qiang und seine Helfer gesperrte Weibo-Beiträge, aus denen sie “sensible Begriffe” filtern, die Fehlermeldungen im System auslösen. Auf diese Weise ist eine Art Enzyklopädie der Zensur entstanden, die wir in Auszügen auf den folgenden Seiten veröffentlichen. Die Liste kehrt das Verdrängte, das Unsichtbare, das Verleugnete hervor. Sie gewährt einen Einblick in das Denken von Chinas Machthabern, die vor nichts größere Angst haben als vor öffentlichen Protesten und der Entblößung ihrer Elitekader. Sie empfinden schon den Begriff “Erotik” als anstößig, sogar harmlose Kritik an einer staatlichen Unterhaltungsgala im Fernsehen ertragen sie nicht. Und erst recht nicht, dass über die Zensur gepostet wird. Auf der Verbotsliste der China Digital Times taucht folgende Begriffskombination immer wieder auf: “Weibo + Zensur”.

Die Liste veranschaulicht außerdem, wie die User mit Kreativität und Wortwitz die Zensur überwinden und wie die Grenzen zwischen “sicherer” und “riskanter” Sprache verschwimmen: Rund um politisch sensible Jahrestage wie den 4. Juni wird das Jahr 1989 tabu und mit ihm Anspielungen auf das Datum wie der “35. Mai” oder selbst das Wort “heute”. Ereignet sich in der Provinz Shanxi ein Grubenunglück mit vielen Toten, verschwindet die gesamte Region vorübergehend aus der Welt von Sina Weibo. Einige Begriffe auf der Verbotsliste zeugen geradezu von subversiver Poesie: Die drei Zeichen 占占人 erinnern optisch an zwei Panzer, die einen Menschen überrollen – eine piktografische Metapher für das Tiananmen-Massaker.

Zu den am häufigsten gesperrten Begriffen zählt Xis Name, was eine unfreiwillige Komik hat: In den Tagen nach seiner Amtszeitverlängerung im vergangenen Jahr sollte sämtliche Kritik zum Verstummen gebracht werden. Mit dem kurzzeitigen Verbot seines Namens verschwanden aber auch alle Lobeshymnen.

Der Forscher Xiao Qiang spricht von einem zunehmend “flexiblen und raffinierten” System. Seit es bergab geht mit dem Wachstum, sind auch früher unverdächtige Dinge wie Konjunkturdaten heikel, chinesischer Hip-Hop oder Celebrity-Witze gelten als “geistige Verschmutzung” – eine bewusst vage gehaltene Klammer für alles, was in den Augen des Staates einen vermeintlich dekadenten, westlich-individualistischen Lebensstil befeuern könnte. “Firmen wie Sina neigen inzwischen zur Überzensur”, sagt Xiao, er klingt ernüchtert. “Die Zensoren haben die Oberhand gewonnen.”

Früher ließen die Konzerne so viele Schlupflöcher wie möglich offen, um ihre Nutzerzahlen und die Anzeigenumsätze nach oben zu treiben. Heute greifen sie bisweilen rabiater durch als nötig: Wer sich Fehler erlaubt, riskiert, seine Geschäftslizenz zu verlieren. Selbstzensur ist in den Unternehmen also mittlerweile ein Überlebensinstinkt. Die von Xi geschaffene Internetbehörde ist inzwischen so mächtig wie das Verteidigungsministerium. Nach seinem Amtsantritt 2012 machten Zensoren die aufmüpfigsten Blogger des Landes mundtot, zehn Millionen Nutzerkonten wurden gelöscht, eine Klarnamenpflicht für alle wurde eingeführt. Seit 2013 steht das “Verbreiten von Gerüchten” unter Strafe, sofern der Post im Netz mehr als 500-mal geteilt wird. Dutzende Aktivisten und Regimekritiker landeten unter diesem Vorwurf im Gefängnis. Selbst Administratoren von Chatgruppen machen sich strafbar, wenn Nutzer “Gerüchte” posten.

Das Erstaunliche: Ich treffe immer wieder Chinesen, die die neuen Zensurgesetze für gerechtfertigt halten. Die staatliche Propaganda beutet geschickt die Debatte im Westen um Fake-News aus: Seht her, was für ein Chaos entsteht, wenn Regierungen die Kontrolle über das Netz entgleitet!

Die Great Firewall zu umgehen wird unterdessen immer schwieriger. Seit Anfang 2017 sind sogenannte VPN-Programme, mit denen man die Zensurmauer untertunneln kann, offiziell verboten: Apple hat an die 700 Anonymisierungsprogramme aus seinem chinesischen App Store entfernt, der Verkauf und Privatgebrauch von VPNs steht nun erstmals unter Strafe. Im Sommer 2018 verurteilte ein Gericht in Shanghai einen Mann zu drei Jahren Haft auf Bewährung, weil er VPNs vertrieben hatte. Ein Nutzer im südchinesischen Guangzhou musste im Januar 2019 eine Geldstrafe zahlen, weil er sich laut Anklage unerlaubt Zugang zum “internationalen Internet” verschafft hatte.

Dabei nutzen Chinas Unternehmen, seine Wissenschaftler und selbst Parteikader tagtäglich Tunnelsoftware, um zu erfahren, was in der Welt vor sich geht. Sie von freien Informationen abzuschneiden wäre für das Land tödlich, das wissen die Machthaber. Willkürliche Einzelstrafen dienen vor allem dazu, Angst zu erzeugen: “Das Huhn töten, um den Affen abzuschrecken”, sagt man im Chinesischen.

Diese Einschüchterungstaktik hat Erfolg: Zwischen 2015 und 2017 untersuchten Forscher der Universität Stanford die Internetgewohnheiten von 1800 Studenten in Peking. 18 Monate lang bekamen sie eine kostenlose VPN-Software zur Verfügung gestellt. Doch fast die Hälfte der Studenten nutzten sie nicht. Noch erstaunlicher: Selbst von jenen, die die Zensur hintergingen, steuerten nur fünf Prozent ausländische Nachrichtenwebsites wie die
New York Times
an. Die wenigsten wollten sich jenseits der Propaganda über die Welt informieren.

Auch die zwei Studentinnen im Café, die noch nie etwas von der Verfolgung der Uiguren gehört hatten, verspürten nicht den Wunsch, aus dem chinesischen Intranet auszubrechen und sich ins “Außennetz” zu wagen. Auf meinen Hinweis reagierten sie weder empört noch mit Bedauern oder mit Neugier. Sondern mit der emotionslosen Feststellung, dass unsere Konversation eine rote Linie berührt hatte und der Moment nun gekommen war, das Thema zu wechseln: Also, wo könne man noch gut wandern gehen, im Südwesten Chinas?

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