/Suizid: Man nennt es Tod aus Verzweiflung

Suizid: Man nennt es Tod aus Verzweiflung

Der
Nobelpreisgewinner Angus Deaton und seine Kollegin Anne Case haben vor einiger
Zeit mit ihrer Studie
über ein Phänomen viel Aufsehen erregt, das sie death of despair tauften: Tod aus Verzweiflung, also durch Suizid, Alkohol und Drogen. Die beiden zeigten, dass sich die Anzahl der weißen
US-Bürger, vor allem mittleren Alters und mit mittlerer und geringer Bildung,
die einen death of despair starben, seit
1990 mehr als verdoppelt hatte.

Das war
ungewöhnlich, denn zuvor war die Sterberate in den USA über Jahrzehnte hinweg
gesunken, so wie in anderen wohlhabenden Ländern auch. Nirgendwo sonst hatte es
eine derartige Trendumkehr gegeben. Und es erwies sich als politisch relevant.
Denn genau die gleiche Gruppe, die vom death
of despair
so stark betroffen ist, fühlt sich besonders unzufrieden und
abgehängt. Ihre Angehörigen zählen zu den stärksten Unterstützern von US-Präsident
Donald Trump.

Aber ist
der Tod aus Verzweiflung wirklich nur ein Problem der USA? Wie sieht es in Deutschland
aus? Forscher des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW sind der
Frage nachgegangen. Die Ergebnisse sind gerade erschienen. Tatsächlich fanden
meine Kolleginnen und Kollegen Peter Haan, Anna Hammerschmid, Robert Lindner
und Julia Schmieder in ihrer Studie
zum Tod aus Verzweiflung
für Deutschland starke Unterschiede zu der
Situation in den USA: In Deutschland ist die Zahl der deaths of despair unter Menschen mittleren Alters seit 1991 stark
gesunken.

Es gibt
aber eine Bevölkerungsgruppe unter den 50- bis 54-Jährigen, in der die Rate der
Toten aus Verzweiflung enorm hoch ist: die ostdeutschen Männer. Anfang der
1990er-Jahre lag sie an der Spitze bei fast 200 Todesfällen pro 100.000 Personen
– unter westdeutschen Männern hingegen betrug sie nur ein wenig mehr als 80.

Zum Teil
hängt die hohe Differenz mit dem geringeren Lebensstandard und der schlechteren
Gesundheitsvorsorge zu DDR-Zeiten zusammen. Aber auch die Jahre nach der
Wiedervereinigung waren für viele Menschen in Ostdeutschland eine starke
Belastung. Viele wurden entwurzelt. Drei von vier Ostdeutschen mussten bis 1996
ihren Arbeitsplatz wechseln, fast jeder und jede Zweite war selbst arbeitslos.
Viele sind migriert oder haben Familie und Freunde verloren, die ihre Heimat aus
wirtschaftlichen Gründen verlassen haben. Viele Ehen wurden geschieden. Kurzum,
die sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen und Unsicherheiten in
Ostdeutschland waren enorm. Viele tragen diese Erfahrung bis heute mit sich.

Die gute
Botschaft ist, dass die Anzahl der Tode aus Verzweiflung gerade bei
ostdeutschen Männern in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen hat. Das
passt zum wirtschaftlichen Aufholprozess Ostdeutschlands seit der
Wiedervereinigung. Die Arbeitslosigkeit ist vor allem im Osten stark gesunken,
Einkommen und Löhne sind gestiegen. Auch die Lebenszufriedenheit in
Ostdeutschland hat zugenommen und sich derjenigen in Westdeutschland
angenähert, wenngleich sie noch deutlich niedriger liegt.

Die
schlechte Botschaft aber ist: Die Sterberate für deaths of despair ist unter ostdeutschen Männern noch immer fast
doppelt so hoch wie unter westdeutschen Männern und mehr als dreimal so hoch
wie unter ostdeutschen Frauen. In der Altersgruppe der 50- bis 54-jährigen Männer
beträgt sie 89 pro 100.000 – das ist sogar ähnlich hoch wie für weiße
US-Amerikanerinnen und US-Amerikanern gleichen Alters.

Besonders
hoch ist die Rate unter ostdeutschen Männern, die geschieden, verwitwet oder
ledig sind. Und sie ist unter deutschen Staatsangehörigen noch einmal höher als
unter Männern ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Dies zeigt, dass allein wirtschaftliche
Gründe – also Einkommen, Löhne, Beschäftigung und Sozialleistungen – nicht
ausreichen, um das Phänomen zu erklären.

Die Zahlen
sollten ein Weckruf sein für Politik und Gesellschaft. Sie zeigen: Die
Unzufriedenheit und der Protest in Ostdeutschland – aber auch in anderen Teilen
Deutschlands – lassen sich nicht abtun als Klagen auf hohem Niveau. Sie
spiegeln vielmehr gelebte Realität.

Das zeigt
sich auch im Wahlverhalten (obwohl eine Kausalität hier natürlich nicht belegt
ist, aber sie liegt nahe). 26 Prozent der ostdeutschen Männer, mehr als doppelt
so viele wie im Bundesdurchschnitt, haben in den Bundestagswahlen 2017 die AfD gewählt.
In den kommenden drei Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen
könnten es noch deutlich mehr werden. Mögen sich die Todesraten aus
Verzweiflung in den USA auch anders entwickeln als in Deutschland, die
politischen Implikationen sind die gleichen: Verzweiflung und Abgehängtsein
gibt den populistischen Parteien Auftrieb.

Die
Integrationsministerin Sachsens, Petra Köpping, hat immer wieder gewarnt, dass
eine der größten Herausforderungen der Politik die Integration des ostdeutschen
Mannes ist, die wohl vergleichbar ist mit der Integration von Geflüchteten. Schaut
man sich die Studie über die Tode aus Verzweiflung an, muss man ihr recht
geben. Zu wenig wird bisher unternommen, um die Lebensbedingungen in
Deutschland anzugleichen und damit allen Menschen wirkliche Teilhabe zu ermöglichen.

Anmerkung der Redaktion: ZEIT ONLINE geht behutsam mit dem Thema Suizid um, da es Hinweise darauf gibt, dass bestimmte Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Suizidgedanken sind häufig eine Folge psychischer Erkrankungen. Letztere können mit professioneller Hilfe gelindert und sogar geheilt werden.

Wer Hilfe sucht, auch als Angehöriger, findet sie etwa bei der Telefonseelsorge unter der Rufnummer 0800 – 111 0 111 und 0800 – 111 0 222. Die Berater sind rund um die Uhr erreichbar, jeder Anruf ist anonym, kostenlos und wird weder auf der Telefonrechnung noch dem Einzelverbindungsnachweis erfasst. Weitere Beratungsangebote sind etwa hier auf den Seiten der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention zu finden.

Hilfe für Angehörige Suizidgefährdeter bietet auch der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker unter der Rufnummer 01805 – 950 951 und der Festnetznummer 0228 – 71 00 24 24 sowie der E-Mail-Adresse seelefon@psychiatrie.de.

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