/“Matrjoschka”: Sterben in Serie

“Matrjoschka”: Sterben in Serie

Matrjoschka beginnt mit dem
schlimmsten Ohrwurm der Popgeschichte. Auf der Party zu ihrem 36. Geburtstag
steht die Videospielprogrammiererin und Berufs-New-Yorkerin Nadia Vulvukov vor
einem Badezimmerspiegel und redet sich ein, noch nicht alt genug für eine
Midlife-Crisis zu sein. Durch die vulvaförmige Tür des Zimmers dröhnt
der Song Gotta Get Up von Harry Nilsson herein und geht ihr mit seiner
beispiellosen Anhänglichkeit auf die Nerven. Nilsson muss diesen Effekt schon
erahnt haben, als er das Stück vor 48 Jahren veröffentlichte: Gotta Get Up
endet mit einem Vorspulsoundeffekt, der nicht nur den Song, sondern auch die
Gehirne all seiner Zuhörer endgültig zu Brei zermatscht.

Oder sollte es doch ein Zurückspuleffekt
sein, der die Gefangenen des Stücks immer wieder an dessen Anfang zurückversetzt?
Der ultimative Pop-Loop? In Matrjoschka, einer TV-Serie von Amy Poehler,
Leslye Headland und Natasha Lyonne (die auch die Hauptrolle spielt)
erfüllt Gotta Get Up genau diesen Zweck. Dreimal erklingt der Song in
der ersten Folge der Serie und 13 weitere Male in den sieben darauffolgenden
Episoden – jedes Mal, wenn Nadia stirbt und vor dem Spiegel des Badezimmers mit
der Vulvatür wieder aufwacht. Nicht der Tod scheint ihr Schicksal zu sein,
sondern ein ewiges Leben unter der Fuchtel des schlimmsten Ohrwurms der
Popgeschichte.

Was zunächst aussieht wie ein Update von Sex and the City, in dem Sarah Jessica Parker durch eine russische
Kampftrinkerin ersetzt wurde, verwandelt sich binnen weniger Minuten zu einem
Update von Und täglich grüßt das Murmeltier, in dem Bill Murray durch
eine russische Kampftrinkerin ersetzt wurde. Der jüngste Netflix-Erfolg basiert
auf einer einleuchtenden Formel: Die Serie verquirlt zwei populäre Filmideen
und erweitert sie um Alkohol, schlechtes Benehmen und einen body count,
wie man ihn sonst eher aus den Western von Quentin Tarantino kennt.

Nur dass es eben derselbe body ist,
der hier immer wieder durch heranschießende Autos, herabfallende Klimaanlagen,
verschluckte Glasscherben, Ersticken, Ertrinken oder Erfrieren getötet wird.
Nadia braucht eine Weile, um sich ihrer Situation bewusst zu werden: Der
Schnaps, die Joints und ihr raumgreifender Nihilismus erweisen sich in Matrjoschka
als Gegner aller klaren Gedanken. Eher halbherzig stellt sie Vermutungen über
eine kosmische Intervention an, die mit ihrem Lebenswandel, ihren jüdischen
Vorfahren oder dem frühen Tod ihrer Mutter (in kurzen Rückblenden gespielt von Chloë Sevigny)
zu tun haben könnte. Erst als Nadia zufällig einem weiteren Seriensterber
begegnet, beginnt eine systematische Auseinandersetzung mit ihren
Todesursachen.

Alan Zaveri (Charlie Barnett) ist in
vielerlei Hinsicht das Gegenteil von Nadia. Ein Hänfling in korrekt gebügelten
Karohemden, der sich unter einem Fahrradhelm durch das Manhattaner East Village
bewegt und über den richtigen Moment für einen Hochzeitsantrag nachdenkt, während
er nicht merkt, dass ihn seine Freundin mit einem öligen Uniprofessor betrügt.
Auf der Suche nach einem Ausweg aus der Sterbeschleife bilden Nadia und Alan
ein ungleiches Team – das sich jedoch als Fall fürs Lexikon der großen
Serienklischees erweist.

Kritische Stimmen haben sich bereits an
der Ideenzweitverwertung von Matrjoschka abgearbeitet und dabei einen Déjà-vu-Vorwurf
erhoben, der mit Blick auf das Déjà-Vu-Konzept der Serie einer gewissen Komik
nicht entbehrt. Es ist eher ihre brave Botschaft, mit der sie enttäuscht: Nach
all den Drinks, One-Night-Stands und geschliffen-garstigen Dialogen gelangt Matrjoschka
letztlich zu der Erkenntnis, dass Nadia mehr von Alans Gewissenhaftigkeit
vertragen könnte und Alan mehr von Nadias Impulsivität. Wer nicht mehr sterben
will, sollte einfach etwas mehr beziehungsweise weniger leben.

Glücklicherweise kann auch dieses Plädoyer
für Maß und Mitte nicht an der denkwürdigen Performance von Natasha Lyonne rütteln.
Mit absurder Lockenpracht, mehr Löwenmähne als Frisur, stolziert sie in Matrjoschka
von Szene zu Szene. Immer mit Zigarette, Glas oder beidem in der Hand, immer
kurz davor, eine Schlägerei anzuzetteln. Dennoch sind es ihre Punchlines, die
den größten Schaden anrichten: gnadenlose Abrechnungen mit aufdringlichen Typen
und Möchtegern-Hipstern, die immer auch etwas über Nadias eigene
Verletzlichkeit verraten. Allein für die kehlige Stimme, mit der sich Lyonne
durch ihre Rolle flucht, sollte es bei der nächsten Emmy-Verleihung einen
Sonderpreis geben.

Für die TV- und Teeniefilm-Veteranin (American Pie, Scary Movie) ist Matrjoschka
nicht nur ein Herzens-, sondern auch ein Rehabilitationsprojekt. Sie hat die Show mitkonzipiert, mehrere Drehbücher dafür geschrieben und bei der letzten Folge
Regie geführt. Noch vor wenigen Jahren wäre daran nicht zu denken gewesen:
Alkohol- und Drogensucht hatten Lyonnes Karriere zum Stillstand gebracht,
mehrmals stand die Schauspielerin vor Gericht, 2012 musste sie wegen
eskalierender gesundheitlicher Probleme am offenen Herzen operiert werden. “Ich
war so gut wie tot”, sagte sie anschließend im Gespräch mit Entertainment
Weekly
.

Man muss Lyonnes Vergangenheit nicht
kennen, um die Serie zu verstehen, schon gar nicht muss man sie
skandalisieren oder verklären. Die Parallelen zu ihrer Serienrolle sind jedoch
offensichtlich: So wie sich Nadia in Matrjoschka zurück ins Leben kämpft,
kämpft sich Lyonne mit Matrjoschka zurück ins Fernsehgeschäft. Solche
Geschichten mögen die Streamingdienst-Abonnenten schon lange nicht mehr nur in
Amerika. Für den Erfolg der Serie dürfte dieser Umstand ebenso wichtig sein wie
das permanente Gefühl, das alles schon mindestens einmal gesehen zu haben.

Die acht Folgen von “Matrjoschka” sind
auf Netflix zu sehen
.

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